17.1 Einleitung
Für die Behandlung von Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit stehen in Deutschland verschiedene ambulante und stationäre Versorgungsstrukturen zur Verfügung (siehe Abbildung 17.1). Eine ausführliche Darstellung der Versorgungsstrukturen für Alkoholabhängige findet sich bei Weissinger (2019).
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In der Abbildung 17.1, die von der Bundespsychotherapeutenkammer erstellt wurde, lassen sich sechs Teilbereiche der Versorgung unterscheiden. Jeder dieser Teilbereiche hat spezifische Aufgaben/Ziele und auch unterschiedliche Kostenträger.
Hervorheben möchte ich die körperliche Entgiftung, die qualifizierte Entzugsbehandlung sowie die Entwöhnungsbehandlung (siehe Tabelle 17.1).
Körperliche Entgiftung | Qualifizierte Entzugsbehandlung | Entwöhnungsbehandlung |
---|---|---|
Eine körperliche Entgiftung umfasst die Behandlung der Alkoholintoxikation mit körperlich-neurologischen Ausfallerscheinungen und/oder von Alkoholentzugs-symptomen, wie sie bei einem relevanten Anteil der PatientInnen mit Alkoholabhängigkeit auftreten können. Ziel ist die Sicherstellung der Vitalfunktionen und die Vermeidung von Komplikationen (z.B. epileptische Anfälle oder Delirium tremens) sowie die Reduzierung/ Linderung von Entzugserscheinungen. Die Entgiftung dauert bei Alkoholismus i.d.R. 7 bis 14 Tage. | Suchtpsychiatrische bzw. suchtmedizinische Akutbehandlung, die über die körperliche Entgiftung hinausgeht. Grundsätzlich erfolgt eine Behandlung der Intoxikations- und Entzugssymptome und eine Diagnostik und Behandlung der psychischen und somatischen Begleit- und Folgeerkrankungen. Essentiell für eine QE sind psycho- und soziotherapeutische sowie weitere psychosoziale Interventionen zur Förderung der Änderungsbereitschaft und der Änderungskompetenz (z.B. Stabilisierung der Abstinenz). Im Rahmen der QE soll die Bereitschaft zur Inanspruchnahme weiterführender Hilfen gesteigert und entsprechende Kontakte in das regionale Hilfesystem gebahnt werden (z.B. Selbsthilfe, Psychotherapie, Soziale Arbeit). Bei entsprechender Indikation erfolgt die Vermittlung in spezifische Behandlungsangebote, wie z.B. in die soziale oder medizinische Rehabilitation. Aufgrund der o.a. multidisziplinär zu erbringenden Behandlungsleistungen und zur suffizienten Differenzialdiagnostik und Behandlung psychischer und somatischer Folge- und Begleiterkrankungen ist die Dauer einer qualifizierten Entzugsbehandlung länger als bei einer körperlichen Entgiftung. Es sind drei bis sechs Wochen anzusetzen. | Die medizinische Rehabilitation bei Abhängigkeitserkrankungen, umgangssprachlich auch Entwöhnungsbehandlung genannt, gehören zum Rehabilitationsangebot der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Behandlungen enthalten nicht nur medizinisch-therapeutische Elemente, sondern berücksichtigen auch soziale und seelische Gesichtspunkte von Abhängigkeitserkrankungen. Eine Standardtherapie bei Alkoholabhängigkeit kann bis zu 15 Wochen stationär durchgeführt werden. |
Die Definition der körperlichen Entgiftung und der qualifizierten Entzugsbehandlung in Tabelle 17.1 stammt aus den S3 Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ (Kiefer et al., 2021), die Definition der Entwöhnungsbehandlung aus der Broschüre “Entwöhnungsbehandlung – ein Weg aus der Abhängigkeit” der Deutschen Rentenversicherung.
17.2 Behandlungsziele
Behandlungsziele aus Sicht von Patienten und Angehörigen sind:
- Weniger schwere Trinktage
- Geringere Durchschnittstrinkmenge
- Weniger Terminversäumnisse
- Stabilere Leistung am Arbeitsplatz
- Weniger familiäre Streitereien
- Bessere körperliche Gesundheit
Behandlungsziele aus Sicht der Therapeuten sind:
- Wiederherstellung der körperlichen Gesundheit
- Wiederherstellung oder Sicherung der Erwerbsfähigkeit und –tätigkeit
- Lebensfreude ohne Suchtmittel bzw. Suchtverhalten
- Stärkung von aktivem Gesundheitsverhalten
- Wiedererlangung von Selbstvertrauen - Bewältigung von Belastungs- und Konfliktsituationen
- Reaktivierung von persönlichen Ressourcen
- Familiäre und berufliche Integration
Abstinenz galt lange Zeit als der einzige Weg aus der Alkoholabhängigkeit und auch heute ist die Abstinenz noch das finale Ziel bei der Behandlung von Patienten mit einer Alkoholerkrankungen. Allerdings wird für eine Zieloffenheit plädiert, d.h. auch eine Reduktion des Konsums und eine Schadenminimierung können Therapieziele sein.
Bereits seit den 60er-Jahren wird über eine Reduktion des Alkoholkonsums als alternatives Therapieziel diskutiert (Sobell & Sobell, 1995). Auch in Deutschland ist die Reduktion des Alkoholkonsums ein anerkanntes Therapieziel (Kiefer et al., 2021).
Bei Henssler et al. (2020) und Körkel (2005) finden sich weitere Argumente, warum neben der Abstinenz der Konsumreduktion eine sinnvolles Behandlungsziel für bestimmte Patienten sein kann.
Die beiden Behandlungsziele „Abstinenz“ und „Konsumreduktion“ müssen auch nicht im Widerspruch zueinander stehen, sondern können sich ergänzen. Für 10 bis 30% der Patienten, die die Behandlung mit einer Reduktion des Alkoholkonsums beginnen, wird dies zu einer Brücke hin zur Abstinenz (Henssler et al., 2020).
Kontrolliertes Trinken
“Kontrolliertes Trinken bedeutet nicht einfach „weniger trinken” oder „trinken wie andere (“Normalkonsumenten”) auch”. “(Selbst)kontrolliertes Trinken” steht vielmehr für einen Alkoholkonsum, der an einem zuvor festgelegten Konsumplan ausgerichtet ist. Pragmatisch betrachtet, heißt dies, jeweils für eine Woche im voraus (a) seine maximale tägliche und (b) maximale wöchentliche Trinkmenge sowie (c) die Anzahl abstinenter Tage festzulegen und einzuhalten.” (Körkel, 2005)
17.3 Psychopharmakotherapie
siehe Vorlesungsfolien; ein aktuelles Update der Pharmakotherapie der Alkoholentwöhnung findet sich in Soyka & Rösner (2020)
Alkoholkrankheit - Der schwere Weg des Entzugs
17.3.1 Medikamentöse Rückfallprophylaxe
Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen gibt in einer Stellungnahme zu dem Thema “Medikamente zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit” folgende Empfehlung:
“Der Einsatz von Medikamenten in der Langzeittherapie dient der Aufrechterhaltung der Abstinenz oder der Reduktion der Trinkmenge. Unter Expertinnen ist umstritten, ob für die Langzeittherapie Pharmaka eingesetzt werden sollen.
Als Argumente für den Einsatz von Medikamenten in der Langzeittherapie der Alkoholabhängigkeit werden angeführt:
- Trotz der nachgewiesenen Wirksamkeit der psycho- und soziotherapiebasierten Suchtbehandlung erreicht ein zu großer Anteil der Patientinnen und Patienten keinen langfristigen Therapieerfolg, so dass Bedarf für zusätzliche Therapiemöglichkeiten besteht.
- Zu wenige alkoholkranke Patientinnen werden von den etablierten Behandlungsangeboten erreicht. Über das Angebot einer Pharmakotherapie können zusätzliche Patienten und Patientinnen erreicht werden, auch, da eine Pharmakotherapie weniger Aufwand oder weniger Stigmatisierung bedeutet oder mehr dem individuellen Krankheitskonzept des Patienten/der Patientin entspricht.
- Die Alkoholabhängigkeit, gekennzeichnet durch das chronische Einwirken einer psychotropen Substanz auf das zentrale Nervensystem (ZNS), hat eine direkte biologische Komponente, so dass hier grundsätzlich ein pharmakologischer Ansatz zur Reduktion von Trinkverlangen möglich erscheint.
- Im Unterschied zu Behandlungen, die an Suchttherapeutinnen geknüpft sind, ist eine Pharmakotherapie weitgehend unbegrenzt verfügbar (für die Selbsthilfe gilt dies allerdings im Wesentlichen auch).
Argumente gegen den Einsatz von Medikamenten in der Langzeittherapie der Alkoholabhängigkeit:
- Es besteht die Gefahr, dass von Patientin und Therapeut*in einseitig auf eine (überschätzte) Pharmakotherapie gesetzt wird und die etablierten Langzeittherapien (Entwöhnung, Nachsorge einschließlich Selbsthilfe) vernachlässigt werden.
- Die Pharmakotherapie der Sucht verstärkt süchtige Konzepte und konterkariert damit suchttherapeutische Bemühungen. Sie verstärkt die dysfunktionale Überzeugung, dass gegen ein Problem (hier: eine Suchterkrankung) nur die orale Einnahme einer Substanz hilft.
- Wie praktisch alle wirksamen Medikamente haben auch Pharmaka zur Behandlung der Alkoholabhängigkeit Nebenwirkungen.
- Im Falle eines Rückfalls oder wenn primär eine Trinkmengenreduktion angestrebt wird, sind Wechselwirkungen zwischen Medikament und Alkohol zu beachten.
Die S3-Leitlinie alkoholbezogene Störungen (AWMF et al., 2016) empfiehlt (Empfehlungsgrad B): „Nach Berücksichtigung von und Aufklärung über mögliche Risiken sollte bei Alkoholabhängigkeit in der Postakutbehandlung außerhalb der stationären Entwöhnung eine pharmakotherapeutische Behandlung mit Acamprosat oder Naltrexon im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes angeboten werden.“
Die Empfehlung wurde innerhalb der Leitliniengruppe kontrovers diskutiert und mit einer 84%igen Zustimmung verabschiedet. Unter Berücksichtigung der Nebenwirkungen gelten die zugelassenen Medikamente als relativ anwendungssicher. Für Disulfiram und Nalmefen werden Kann-Empfehlungen (Empfehlungsgrad 0 bzw. Klinischer Konsenspunkt) ausgesprochen.
Zur Langzeittherapie der Alkoholabhängigkeit sind in Deutschland drei Pharmaka zugelassen (Acamprosat, Naltrexon, Naloxon) und eines (Disulfiram) hat die Zulassung verloren. Baclofen hat keine Zulassung, es liegen aber etliche neue Studien vor.”
17.4 Psychotherapie
Die Ergebnisse einer Metaanalyse legen nahe, dass die beste Praktiken in der Suchtbehandlung Pharmakotherapie plus kognitive kognitive Verhaltenstherapie oder eine andere evidenzbasierte Therapie beinhalten sollte, anstatt übliche klinische Behandlung oder unspezifische Beratungsdienste (Ray et al., 2020).
Nachfolgend werden verschiedene Interventionen beschrieben, die bei der Psychotherapie von Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit angewendet werden können.
17.4.1 Stufen der Veränderung
Das Modell der Stufen der Veränderung (Stages of Change Model) von Prochaska und DiClemente, auch bekannt als Transtheoretisches Modell der Veränderung (TTM), ist ein theoretischer Rahmen, der den Prozess beschreibt, den Menschen durchlaufen, wenn sie bedeutende Verhaltensänderungen vornehmen.
Das TTM wurde von den Psychologen James O. Prochaska und Carlo C. DiClemente in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren entwickelt (Prochaska et al., 1992). Die Autoren des TTM gehen davon aus, dass eine Verhaltensänderung ein Prozess und kein Ereignis ist, der in einer Reihe von verschiedenen Phasen abläuft (Abbildung 17.2).
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Das Modell der Stufen der Veränderung besteht aus sechs Stufen:
- Vorkontemplation (precontemplation)
- In dieser Phase denken die Betroffenen nicht über eine Veränderung nach und sind sich möglicherweise der Probleme mit ihrem Verhalten nicht bewusst oder leugnen sie.
- Möglicherweise fehlt es ihnen an Informationen über die Folgen ihres Handelns oder sie halten eine Veränderung für unnötig.
- Kontemplation (contemplation)
- Personen in dieser Phase sind sich der Notwendigkeit einer Veränderung bewusst, fühlen sich aber möglicherweise unschlüssig.
- Sie wägen die Vor- und Nachteile einer Verhaltensänderung ab und sind möglicherweise unsicher, ob sie etwas unternehmen sollen.
- Vorbereitung (Entschlossenheit)
- In der Vorbereitungsphase haben sich die Betroffenen zu einer Veränderung entschlossen und planen aktiv, wie sie vorgehen wollen.
- Sie können sich Ziele setzen, Informationen sammeln und erste Schritte zur Veränderung unternehmen.
- Aktion
- In dieser Phase geht es um die tatsächliche Umsetzung der geplanten Veränderungen.
- Der Einzelne ändert sein Verhalten, sein Umfeld oder beides, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen.
- Das Handeln erfordert Zeit und Energie.
- Aufrechterhaltung (maintenance)
- Nach einer erfolgreichen Veränderung tritt der Einzelne in die Phase der Aufrechterhaltung ein.
- Der Schwerpunkt liegt auf der Vermeidung von Rückfällen und der Konsolidierung der in der Aktionsphase erzielten Erfolge.
- Die Beibehaltung der neuen Verhaltensweisen wird zur Priorität.
- Beendigung/Relapse
- In der Beendigungsphase hat die Person das neue Verhalten erfolgreich integriert, und es besteht keine Versuchung, zum alten Verhalten zurückzukehren.
- Nicht jeder erreicht diese Phase, da manche Verhaltensweisen nur durch ständige Bemühungen aufrechterhalten werden können.
Eines der wichtigsten Merkmale des Stufenmodells der Veränderung ist die Erkenntnis, dass Rückfälle in altes Verhalten (z. B. Konsum von Alkohol, übermässiges oder wenig Essen, Rauchen) ein normaler Teil des Veränderungsprozesses sind. Wenn eine Person einen Rückfall erleidet, kann sie in einer früheren Phase wieder in den Zyklus eintreten und den Prozess erneut durchlaufen. Das Modell wird deshalb oft als Spirale dargestellt, was den iterativen Charakter der Verhaltensänderung widerspiegelt.
Das TTM der Veränderung hat in der Suchttherapie eine bedeutende Rolle erlangt, weil es einen strukturierten Rahmen für die Analyse und Unterstützung von Veränderungsprozessen bietet. Hier sind einige Gründe, warum dieses Modell so populär wurde:
Berücksichtigung der Ambivalenz: Suchtpatienten erleben oft Ambivalenz hinsichtlich der Veränderung ihres Verhaltens. Das Modell erfasst diese Ambivalenz im Stadium der Contemplation, was Therapeuten ermöglicht, einfühlsam auf die inneren Konflikte der Patienten einzugehen und sie bei der Abwägung von Veränderungsbereitschaft zu unterstützen.
Anpassung von Interventionen: Da das Modell verschiedene Stadien des Veränderungsprozesses identifiziert, können Interventionen gezielt auf die Bedürfnisse und Ressourcen in jeder Phase ausgerichtet werden. Dies fördert die Wirksamkeit der Therapie und minimiert mögliche Frustrationen oder Widerstände seitens des Patienten.
Vorhersage von Rückfällen: Das Modell berücksichtigt Rückfälle als normalen Bestandteil des Veränderungsprozesses. Durch das Verständnis der verschiedenen Stadien können Therapeuten mögliche Rückfallrisiken frühzeitig erkennen und gezielte Unterstützung bieten, um die Wahrscheinlichkeit von Rückfällen zu verringern.
Langfristige Perspektive: Das Modell betont, dass Veränderung ein zeitlicher Prozess ist und nicht als einmaliges Ereignis betrachtet werden sollte. Diese langfristige Perspektive ist besonders relevant für die Suchttherapie, da der Weg zur nachhaltigen Abstinenz oft Zeit und mehrere Versuche erfordert.
Akzeptanz individueller Unterschiede: Da das Modell die Vielfalt der individuellen Veränderungsbereitschaft anerkennt, ermöglicht es eine patientenzentrierte Herangehensweise, die die Einzigartigkeit jedes Patienten berücksichtigt.
Insgesamt trägt das Transtheoretische Modell dazu bei, die Komplexität der Veränderungsprozesse in der Suchttherapie zu verstehen und unterstützt Therapeuten dabei, flexibel und effektiv auf die Bedürfnisse ihrer Patienten einzugehen. Auf der Basis des TTM kann die in Kapitel 17.4.2 beschriebene motivierende Gesprächsführung eingesetzt werden.
17.4.2 Motivierende Gesprächsführung
Motivierende Gesprächsführung (Motivational Interviewing, MI) ist ein therapeutischer Ansatz, der darauf abzielt, Menschen dabei zu helfen, Ambivalenzen in Bezug auf Verhaltensänderungen zu erforschen und aufzulösen.
Er wurde in den 1980er Jahren von den Psychologen William R. Miller und Stephen Rollnick entwickelt und hat seitdem zusammen mit dem TTM weite Verbreitung gefunden, insbesondere in dem Bereich Suchtbehandlung (Miller et al., 2009). Durch die Verknüpfung der MI mit dem Transtheoretischen Modell der Veränderung lassen sich die Interventionen des MI gezielt auf die jeweilige Phase der Veränderungsbereitschaft abstimmen.
Hier sind die wichtigsten Grundsätze und Konzepte des Motivational Interviewing:
- Empathie ausdrücken: Therapeuten, die MI anwenden, versuchen, die Perspektive des Patienten mit Empathie und ohne Wertung zu verstehen. Dies hilft beim Aufbau einer vertrauensvollen und unterstützenden Beziehung und schafft eine Atmosphäre, in der sich der Klient verstanden und akzeptiert fühlt.
- Diskrepanz entwickeln: Mit Hilfe der Gesprächstechniken des MI soll dem Patienten, die Diskrepanz zwischen seinem aktuellen Verhalten und seinen weiter gefassten Lebenszielen oder Werten verdeutlicht werden. Indem der Therapeut diese Diskrepanz hervorhebt, ermutigt er die Person, die Notwendigkeit einer Veränderung zu erkennen.
- Mit dem Widerstand (Reaktanz) mitgehen: Anstatt den Patienten direkt mit den negativen Folgen seines Verhaltens zu konfrontieren, versuchen Therapeuten mit dem Patienten zu gehen oder ihn zu umgehen (“rolling with resistance”). Sie vermeiden es, mit dem Patienten zu argumentieren, da der Widerstand ein natürlicher Prozess ist.
- Selbstwirksamkeit unterstützen: In der motivierenden Gesprächsführung wird der Glaube an die Fähigkeit des Patienten betont, positive Veränderungen vorzunehmen. Therapeuten fördern die Selbstwirksamkeit, indem sie sich auf die Stärken des Patienten und seine früheren erfolgreichen Bemühungen um Veränderung konzentrieren.
Motivational Interviewing wird häufig eingesetzt, um Verhaltensweisen wie Drogenmissbrauch, ungesunde Essgewohnheiten und andere gesundheitsbezogene Probleme zu behandeln. Durch den kooperativen, empathischen und nicht-direktiven Charakter der Methode können Einzelpersonen dabei unterstützt werden, ihre Beweggründe für Veränderungen zu erforschen und funktionalere Verhaltensweisen anzustreben.
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Regeln bei der Motivierenden Gesprächsführung
- Hören Sie aktiv zu, werten Sie nicht, seien Sie respektvoll, versuchen Sie die Perspektive des Patienten zu verstehen.
- Stellen Sie offene Fragen, um die Selbstreflektion des Patienten zu fördern.
- Besprechen Sie mit dem Patienten das Spannungsfeld zwischen seinen Lebenszielen (Familie, Freunde, Job, Gesundheit) und der gegenwärtigen Situation (Diskrepanzen entwickeln).
- Seien Sie geduldig, machen Sie keine Vorwürfe, und vermeiden Sie Konfrontationen.
- Akzeptieren Sie den Patienten als eigenständiges Individuum. Sie können sein Leben nicht ändern; er ist für sich selbst verantwortlich.
- Trauen Sie dem Patienten zu, seine Probleme selbst und mit Hilfsangeboten in Griff zu bekommen. Vermitteln Sie dies Ihrem Gegenüber auch verbal.
- Geben Sie eine positive Rückmeldung für Erfolge. Stärken Sie die Zuversicht des Patienten, sein Verhalten ändern zu können.
Eine besondere Herausforderung bei der Motivierung zur Veränderung (insb. von Suchtpatienten) ist der Umgang mit Widerstand (Reaktanz), insb. wenn Patienten keine große Veränderungsbereitschaft zeigen, sich also in der Phase der Precontemplation und teilweise auch erst in der Phase der Contemplation befinden.
Miller et al. (2009) unterscheiden vier Arten von Widerstandsverhalten:
- Arguing: Der Patient stelle die Kompetenz des Therapeuten in Abrede (“Was wissen Sie denn schon über Alkoholiker”, “Haben Sie selbst gesoffen?”)
- Interrupting: Der Patient schneidet dem Therapeuten das Wort ab, unterbricht ihn.
- Negating: Der Patient leugnet (“Ich habe mit dem Alkohol kein Problem.”) oder bagatellisiert eigene Probleme, lehnt Vorschläge oder Hilfsangebote destruktiv ab und/oder zeigt eine durchgängige negativistische Haltung.
- Ignoring: Der Patient klinkt sich aus dem Dialog aus, indem er unaufmerksam ist, nicht antwortet oder dem Gespräch eine neue Richtung verleiht (z. B. “Wir haben jetzt genug über Alkohol gesprochen. Was gibt es noch?”)
Solches Widerstandsverhalten ist im Prinzip “menschlich normal” und tritt meistens dann auf, wenn Menschen gegen ihren Willen zu etwas bewegt werden sollen (siehe z. B. das Verhalten bei Einführung einer Maskenpflicht in der Covid-19 Pandemie).
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Suchtpatienten müssen sich Suchtprobleme und damit eigene persönliche Schwächen eingestehen. Aus Sicht der Motivierenden Gesprächsführung gilt daher: “Persistent resistance is not a client problem, but a counselor skill issue.” (Miller & Rollnick, 2023)
17.4.3 Verhaltens- und Problemanalyse
Wenn eine ausreichende Veränderungsmotivation vorhanden und der Patient bereit ist, sich auf die Therapie einzulassen, können folgende weitere Schritte vorgenommen werden, um das Trinkverhalten zusammen mit den Auslösern, den Konsequenzen, den Fluktuationen etc. dem Patienten zu verdeutlichen:
- Detaillierte Abhängigkeitsanalyse
- häufigste Trinksituationen in der Vergangenheit
- Situationsmerkmale (Trigger), die besonders eng mit dem Wunsch/Verlangen nach Alkohol verbunden sind
- Gefühle, Gedanken, Wirkungserwartungen vor dem Alkoholkonsum
- kurzfristig angenehme Wirkungen des Alkohols
- Analyse eines Trinktages
- detaillierte Betrachtung eines konkreten, typischen Tages mit Alkoholwirkungen (C+, Wegfall von C-)
- Analyse der letzten 28 Trinktage
- Betrachtung von Schwankungen, Phasen, Zyklen
- Lebenslinie
- Übersicht über gesamten bisherigen Alkoholkonsum
- Tagebücher (Trinktagebücher)
- Detailanalyse und Verbesserung der Selbstwahrnehmung
- Situationsanalyse
- Detaillierte Betrachtung typischer Trinksituationen
Die Durchführung einer Verhaltens- und Problemanalyse dient dazu, das Verhalten des Patienten in Bezug auf den Alkoholkonsum zu verstehen, die zugrunde liegenden Ursachen und Auslöser zu identifizieren und weitere Intervention zu planen. Nachfolgend sind einige Gründe aufgeführt, warum eine Verhaltens- und Problemanalyse wichtig ist:
- Verständnis des Trinkverhaltens
- Eine detaillierte Analyse ermöglicht es, die spezifischen Umstände, Situationen und Motivationen zu verstehen, die zu Alkoholkonsum führen. Dieses Verständnis ist entscheidend, um geeignete Interventionsstrategien auszuwählen bzw. zu entwickeln.
- Identifikation von Auslösern und Risikosituationen
- Durch die Analyse werden bestimmte Auslöser und Risikosituationen identifiziert, die das Verlangen nach Alkohol verstärken können. Dies können stressige Situationen, emotionale Belastungen oder bestimmte soziale Kontexte sein.
- Erfassung von Belohnungsmustern
- Eine Verhaltens- und Problemanalyse hilft dabei, die positiven Verstärkungen zu erkennen, die mit dem Alkoholkonsum verbunden sind. Dies könnten kurzfristige Belohnungen wie Stressreduktion oder soziale Integration sein.
- Erkennen von Denk- und Verhaltensmustern
- Die Analyse ermöglicht es, problematische Denk- und Verhaltensmuster des Patienten zu erkennen, die zur Aufrechterhaltung der Alkoholabhängigkeit beitragen können. Dies schließt Leugnung, Rationalisierung und Vermeidungsverhalten ein.
- Feststellen von Konsequenzen des Alkoholkonsums
- Durch die Analyse werden die negativen Konsequenzen des Alkoholkonsums auf das physische und psychische Wohlbefinden, die sozialen Beziehungen und die berufliche Leistung erfasst.
- Planung gezielter Interventionen
- Die gewonnenen Erkenntnisse ermöglichen es, maßgeschneiderte Interventionen zu planen. Dies können Verhaltensstrategien, kognitive Umstrukturierung, Stressmanagementtechniken und andere therapeutische Ansätze sein.
- Förderung der Selbstreflexion (Einsicht)
- Die Analyse fördert die Selbstreflexion des Patienten, indem sie dazu beiträgt, Muster und Zusammenhänge zwischen Verhalten und Konsequenzen zu erkennen. Dies ist ein wichtiger Schritt zur Eigenmotivation für Veränderung.
17.4.4 Training sozialer Kompetenzen
Ein Soziales Kompetenztraining (SKT) für Patienten mit Alkoholabhängigkeit zielt darauf ab, die sozialen Kompetenzen und Fähigkeiten zu verbessern, um zwischenmenschliche Situationen besser zu meistern und gleichzeitig alkoholbedingte Verhaltensweisen zu bewältigen. Ziel ist es, die Fähigkeit des Patienten zu verbessern, gesunde Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten, mit sozialen Auslösern umzugehen und das Risiko eines Rückfalls zu verringern. Im Folgenden werden die wichtigsten Bestandteile des sozialen Kompetenztrainings beschrieben, das häufig in Gruppen durchgeführt wird:
- Kommunikationsfähigkeiten
- Zum Training von effektive Kommunikationsfähigkeiten gehört, den Patienten beizubringen, wie sie sich klar, selbstbewusst und einfühlsam ausdrücken können. Dazu gehören aktives Zuhören, das Ausdrücken von Gefühlen und konstruktives Lösen von Konflikten.
- Soziales Problemlösen
- Die Patienten lernen Problemlösungstechniken, um Herausforderungen in ihren sozialen Interaktionen anzugehen. Dazu kann es gehören, Auslöser für den Alkoholkonsum zu erkennen, alternative Bewältigungsstrategien zu entwickeln und Entscheidungen zu treffen, die die Nüchternheit fördern.
- Zwischenmenschliche Beziehungen
- Der Schwerpunkt liegt auf der Verbesserung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Dazu gehören der Aufbau und die Pflege gesunder Beziehungen, das Setzen von Grenzen und das Erkennen der Auswirkungen des Alkoholkonsums auf soziale Beziehungen.
- Bewältigung von sozialen Auslösern
- Die Patienten werden darin geschult, soziale Situationen zu erkennen und zu bewältigen, die als Auslöser für den Alkoholkonsum dienen können. Dazu gehört die Entwicklung von Strategien zum Umgang mit Stress, Gruppendruck und gesellschaftlichen Ereignissen, bei denen Alkohol im Spiel sein kann.
- Einfühlungsvermögen und Perspektivübernahme
- Die Entwicklung von Einfühlungsvermögen und der Fähigkeit, die Perspektive anderer einzunehmen, ist entscheidend für die Verbesserung der sozialen Kompetenz. Die Patienten lernen, die Gefühle und Bedürfnisse anderer zu verstehen, wodurch positivere und unterstützende Beziehungen gefördert werden.
- Soziale Unterstützungsnetze
- Die Schulung umfasst die Identifizierung und Stärkung sozialer Unterstützungsnetze. Die Patienten lernen, Unterstützung von Freunden, Familienangehörigen und Selbsthilfegruppen zu suchen und mit ihrem Unterstützungssystem effektiv über ihre Ziele und Herausforderungen bei der Aufrechterhaltung der Nüchternheit zu kommunizieren.
- Verweigerungskompetenz
- Den Patienten wird beigebracht, wie sie dem sozialen Druck, Alkohol zu konsumieren, widerstehen können. Dazu gehört ein Selbstbehauptungstraining und die Fähigkeit, auf entschlossene, aber respektvolle Weise “Nein” zu Alkohol zu sagen.
- Rollenspiel-Übungen
- Rollenspiele werden häufig während des SGT eingesetzt, um den Patienten die Möglichkeit zu geben, ihre sozialen Fähigkeiten in einer kontrollierten Umgebung zu üben und zu verfeinern. Dies trägt dazu bei, Vertrauen und Kompetenz in realen Situationen aufzubauen.
Das SKT wird in der Regel in einen umfassenden Behandlungsplan integriert, oft in Verbindung mit anderen therapeutischen Ansätzen wie motivierende Gesprächsführung und anderen Interventionen.
17.4.5 Cue Exposure Therapie
Die Cue Exposure Therapy (CET) bei Alkoholabhängigkeit ist eine Form der Verhaltenstherapie, die darauf abzielt, die Reaktionen auf sogenannte “Auslösehinweise” (Cues) zu reduzieren oder zu modifizieren. Diese Hinweise, auch als Reizreize oder Trigger bezeichnet, sind spezifische Situationen, Emotionen, Orte oder andere Reize, die das Verlangen nach Alkoholkonsum auslösen können (Conklin & Tiffany, 2002). Nachfolgend sind Schlüsselaspekte der CET aufgeführt:
- Identifikation von Auslösehinweisen
- In einem ersten Schritt werden gemeinsam mit dem Patienten spezifische Auslösehinweise identifiziert, die mit seinem Alkoholkonsum verbunden sind. Dies können bestimmte Orte, soziale Situationen, Stress oder Emotionen sein.
- Aufbau einer Hierarchie der Auslösehinweise
- Die identifizierten Auslösehinweise werden in einer Hierarchie organisiert, basierend auf ihrer Intensität und dem Schwierigkeitsgrad, ihnen zu begegnen. Dies ermöglicht eine schrittweise Exposition, beginnend mit weniger belastenden Auslösern.
- Konditionierte Reaktionsverminderung
- Während der Therapiesitzungen wird der Patient schrittweise und kontrolliert den Auslösehinweisen ausgesetzt, ohne dabei Alkohol zu konsumieren. Ziel ist es, die konditionierten Reaktionen auf diese Hinweise zu verringern.
- Achtsamkeit und Expositionsübungen
- Der Patient wird dazu ermutigt, achtsam auf seine Gedanken, Gefühle und Körperreaktionen während der Exposition zu achten, ohne diesen nachzugeben. Dies fördert das Bewusstsein für die Auslösehinweise und die Kontrolle über die Reaktionen darauf.
- Bewältigungsstrategien entwickeln
- Während der Exposition werden alternative Bewältigungsstrategien erarbeitet. Dies können kognitive Techniken (Umdenkstrategien), Entspannungsübungen oder alternative Verhaltensweisen sein, um mit dem Verlangen nach Alkohol umzugehen.
- Langsame Steigerung der Schwierigkeit
- Die Expositionsübungen werden schrittweise intensiviert, wobei die Patienten allmählich komplexeren und herausfordernderen Auslösehinweisen gegenüberstehen.
- Transfer in den Alltag
- Die erworbenen Fähigkeiten und Strategien aus der CET werden auf den Alltag übertragen. Der Patient lernt, diese auch außerhalb der Therapiesitzungen in realen Situationen anzuwenden.
Die Cue Exposure Therapy basiert auf den Prinzipien des klassischen Konditionierens, indem sie die Verbindung zwischen Auslösehinweisen und dem Verlangen nach Alkohol modifiziert. Es ist wichtig zu betonen, dass diese Form der Therapie individuell angepasst wird und in Verbindung mit anderen therapeutischen Intervetionen eingesetzt werden sollte.
Die Datenlage zur Effektivität der CET ist uneinheitlich und es ist nicht klar, ob die CET einen zusätzlichen Nutzen über die anderen in einer CBT integrierten Intervention hinaus bietet. Zwei Meta-Analysen ergaben, dass der Gesamteffekt der Weiterbildung gering ist (d < 0,10). Derzeit werden neue Ansätze für die Durchführung der CET untersucht, insbesondere über Smartphone-Anwendungen (Conklin & Tiffany, 2002).
17.4.6 Rückfallprävention
Da in der Regel ein Rückfall selbst bei bester Prognose eines Patienten niemals mit Sicherheit auszuschließen ist, sollte jeder Patient auf die Möglichkeit eines Rückfalls vorbereitet werden. Ziel ist es hierbei, Rückfälle, wenn sie schon nicht verhindert werden konnten, im Sinne einer Schadenbegrenzung möglichst rasch beenden zu lernen.
Aufgrund des drohenden Rückfallschocks kommt es hierbei darauf an, dass der Patient und – falls möglich - Angehörige über einen einfachen und vor allem fest eingeprägten sog. “Notfallplan” bzw. “Notfallkoffer” verfügen.
Ein Notfallplan / Notfallkoffer sollte folgende Elemente enthalten:
- Wer ist der geeignete Ansprechpartner bei einem Rückfall?
- Festlegung der geeigneten Reihenfolge von Maßnahmen
- Wiedergewinnung von Abstinenzzuversicht (Stichwort: “slip”)
Bestandteil eines Notfallkoffers
Merke! Der Suchtdruck dauert nicht ewig! Nach 20-30 Minuten ist er meist vorbei.
Notfallrufnummern:
- sprich mit Menschen, die dich verstehen!
- Verlasse den kritischen Ort falls möglich
- Erinnere dich an dein Ziel abstinent zu bleiben, warum willst du das? Was motiviert dich?
- Abstinenzkarte, wichtige Symbole, Fotos, Zitate o.ä. betrachten
Ablenkstrategien:
- Viel Wasser trinken
- Chilischote, Senf, o.ä. essen
- Kalt duschen
- Massage mit Igelball
- Gummibänder (schnalzen lassen)
- Knautschball drücken
- Wärmesalbe
- Kieselsteinchen in die Schuhe legen
- an Duftölen, Salmiakgeist o.ä. riechen
- Sport machen, Bewegung
- Musikhören, laut mitsingen
- Kreuzworträtsel lösen, Denkaufgaben machen
- Malen (z.B. Mandalas)
- Meditation, Entspannungsübungen
- In die Natur gehen, spazieren gehen
siehe für weitere Details: https://suchtfrei-leben.de/notfallkoffer/
17.4.7 Angehörigenarbeit
Angehörige werden zusätzlich stigmatisiert, indem ihnen unter Konzepten wie der „Co-Abhängigkeit“ eine (Mit-)schuld an Entstehung und Aufrechterhaltung der Erkrankung zugeschrieben wurde. Bezogen auf erwachsene Angehörige kann in diesem Zusammenhang von einer „doppelten Stigmatisierung“ gesprochen werden: über das Stigma hinausgehend, welches leider bis heute allgemein mit Suchterkrankungen verknüpft ist, wird die Entscheidung, den Kontakt zu einem suchtkranken Menschen aufrechterhalten zu wollen, meist mit Unverständnis betrachtet.
17.4.8 Behandlung komorbider psychischer Störungen
Die Rate komorbider psychischer Erkrankungen ist bei alkoholbezogenen Störungen hoch (Preuss et al., 2015). Soziale Ängste, Persönlichkeitsstörungen, Depressionen usw. sind häufig koexistent. Von daher ist deren Mitbehandlung eine wichtige Aufgabe und hat einen Einfluss auf die Rückfallgefährdung.
17.5 Prävention
In Abbildung 17.5 sind ausgewählte Präventionsmaßnahmen und -strategien, deren Effektivität und Kosten zusammengestellt.
![](images/abuse_präventionsmaßnahmen.png)
Epidemiologischen Studien weisen darauf hin, dass die Hochrisikophase für die Entwicklung einer Alkoholkonsumstörung im Alter zwischen 15 und Anfang 20 liegt. Wer in diesen Lebensjahren zu viel trinkt, scheint ein erhöhtes Risiko zu haben, später eine Alkoholabhängigkeit zu entwickeln. Von daher sind zahlreiche Präventionsmaßnahmen (z. B. Besteuerung, Regulierung der Alkoholwerbung, Einschränkung der Verfügbarkeit) auf diese Personengruppe gerichtet.
Die drei wirksamsten Maßnahmen zur Verhältnisprävention von Alkoholstörungen, die auch von der WHO empfohlen werden, sind
- Preiserhöhungen,
- eine Beschränkung der Verfügbarkeit sowie
- ein Verbot von Werbung und Marketing für alkoholische Getränke.
Verhältnis- und Verhaltensprävention
Es wird zwischen Verhaltens- und Verhältnisprävention unterschieden. Hierbei handelt es sich um unterschiedliche Ansätze, um Veränderungen zu erreichen. Die Verhältnisprävention (strukturelle Prävention) will Einfluss auf Gesundheit bzw. Krankheit nehmen, indem sie Veränderungen der Lebensbedingungen der Menschen anstrebt (Arbeit, Familie, Freizeit oder auch Umweltbedingungen), um diese möglichst risikoarm zu gestalten, gesundheitsfördernde Arbeitsplätze, Rauchverbot in Gaststätten. Die Verhaltensprävention nimmt Einfluss auf das individuelle Gesundheitsverhalten. Durch Aufklärung oder Information, Stärkung der Persönlichkeit oder auch Sanktionen, soll der Einzelne dazu motiviert werden, Risiken zu vermeiden und sich gesundheitsförderlich zu verhalten, z.B. ausreichend bewegen, gesund ernähren, Kontakte pflegen.
In Tabelle 17.2 sind wichtige Begriffe der Prävention aufgeführt und erläutert.
Maßnahme | Vorgehensweise |
---|---|
Medizinische Vorsorge (Prophylaxe, Prävention) | Maßnahmen, die die Entstehung von Krankheiten verhindern sollen (wie z. B. das regelmäßige Zähneputzen) |
Früherkennung | Untersuchung von Menschen ohne Beschwerden, um frühe Formen einer Erkrankung zu erkennen; spielt vor allem bei der Krebsdiagnostik eine große Rolle und wird dort auch als Screeninguntersuchung oder (Krebs-)Vorsorge bezeichnet |
Verhältnisprävention | Verhinderung von Krankheiten durch Änderung der Lebensverhältnisse, z. B. durch Vorschriften, Gesetze, bauliche Maßnahmen, staatliche Förderung oder technische Überwachung |
Verhaltensprävention | Verhinderung von Krankheiten durch Änderung des individuellen Verhaltens – die Menschen sollen lernen, Gesundheitsrisiken durch einen geeigneten Lebensstil zu vermeiden |
Gesundheitsförderung | Stärkung von Kompetenz und Eigenmitteln (Ressourcen), die im Gegensatz zur Vorsorge nicht auf die Verhinderung von Krankheiten, sondern auf die Erhaltung der Gesundheit abzielen |
17.5.1 Aufklärung
Auf der Internetseite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) finden sich zahlreiche Broschüren zum Thema Alkoholprävention. Es werden in der Mediathek der BZgA auch verschiedene Filme zum Thema Alkoholprävention bereitgestellt.
Die BZgA fokussiert seit vielen Jahren innerhalb der Suchtprävention die Alkoholprävention und setzt dazu 3 zielgruppenspezifische bundesweite Mehrebenenkampagnen um. Die Kampagne „Null Alkohol – Voll Power“ richtet sich an Jugendliche im Alter von 1 bis 16 Jahren, die Kampagne „Alkohol? Kenn dein Limit.“ besteht aus 2 Teilkampagnen und richtet sich an 16- bis 20-Jährige sowie an Erwachsene. Außerdem bietet die BZgA Sportvereinen die Möglichkeit zur Teilnahme an der Aktion „Alkoholfrei Sport genießen“ (Schwarz & Goecke, 2021).
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17.5.2 Empfehlungen zur Prävention
Basierend auf den Ergebnissen in Bezug auf die Wirksamkeit von Alkoholprävention werden folgende Empfehlungen für die (Weiter-)Entwicklung und Stärkung von wirkungsorientierten Angeboten gegeben (Bühler et al., 2021).
Es gilt:
- Familien und insbesondere Eltern fit zu machen speziell für den Austausch zum Thema Alkohol und die Auseinandersetzungen bei Grenzüberschreitungen sowie allgemein für ein einfühlendes und konsistentes Erziehungsverhalten und ein positives Familienleben;
- in der Schule bei Kindern und jungen Jugendlichen die soziale Kompetenz zu fördern; sie in Selbstkontrolle zu stärken und ihre Entscheidungs- und Problemlösekompetenz zu üben; dabei die Eltern mit einzubeziehen und alternative Freizeitangebote zu schaffen;
- in der Schule ältere Jugendliche aufzuklären und in der Elternarbeit eine klare und konsequent kritische Haltung gegenüber dem Konsum im Jugendalter zu unterstützen;
- bei konsumerfahrenen Jugendlichen, Studierenden und anderen jungen Erwachsenen in Kurzinterventionen zu ermöglichen, die Konsummotivation zu hinterfragen, sich über die eigene Konsummenge bewusst zu werden, und deutlich zu machen, dass riskanter Konsum auch in ihrer Altersgruppe nicht die Norm ist;
- kommunale Ansätze zu verfolgen, in denen koordiniert in mehreren Settings präventiv gearbeitet wird, darunter auch persönliche Kurzinterventionen in Kliniken und Notaufnahmen;
- politisch Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Verfügbarkeit von Alkohol und Alkoholwerbung einschränken (Besteuerung von Alkohol, Heraufsetzung der Altersgrenze,Werbeverbot).
17.6 Verständnisfragen
- Welche präventiven Maßnahmen (z. B. Aufklärungskampagnen, schulische Programme) haben sich als besonders wirksam erwiesen, um den Einstieg in den Alkoholkonsum bei Jugendlichen zu verhindern?
- Wie können gesellschaftliche und politische Strategien (z. B. Preispolitik, Werbeverbote) dazu beitragen, das Risiko für Alkoholkonsumstörungen in der Bevölkerung zu reduzieren?
- Welche Rolle spielen frühzeitige Screening- und Interventionsprogramme in der Prävention von Alkoholkonsumstörungen?
- Wie können Familien und soziale Netzwerke in präventive Maßnahmen einbezogen werden, um das Risiko für Alkoholkonsumstörungen zu verringern?
- Welche Bedeutung haben psychologische Faktoren (z. B. Stressbewältigung, Resilienz) in der Prävention von Alkoholkonsumstörungen?
- Wie können digitale Tools und Online-Programme (z. B. Apps, E-Learning) in der Prävention von Alkoholkonsumstörungen genutzt werden?
- Welche Vorteile haben solche digitalen Tools und Online-Programmegegenüber traditionellen Methoden? Können Sie auch Nachteile erkennen?
- Welche medizinischen Maßnahmen sind während der körperlichen Entgiftung (Detoxifikation) erforderlich, um Entzugssymptome sicher zu behandeln und Komplikationen zu vermeiden?
- Wie unterscheiden sich die Entzugssymptome bei einer Alkoholabhängigkeit von denen anderer Substanzen, und welche spezifischen Herausforderungen ergeben sich daraus für die Entgiftung?
- Welche Rolle spielen Benzodiazepine und andere Medikamente in der Behandlung von Alkoholentzugssymptomen?
- Wie kann die körperliche Entgiftung so gestaltet werden, dass sie den Übergang in eine weiterführende Therapie (z. B. qualifizierte Entzugsbehandlung) optimal unterstützt?
- Welche therapeutischen Elemente (z. B. psychologische Betreuung, medizinische Überwachung) sind in einer qualifizierten Entzugsbehandlung besonders wichtig, um langfristige Abstinenz zu fördern?
- Wie wird in der qualifizierten Entzugsbehandlung auf individuelle Bedürfnisse und Begleiterkrankungen (z. B. Depressionen, Angststörungen) eingegangen?
- Welche Rolle spielt die Motivationsförderung in der qualifizierten Entzugsbehandlung, und wie kann sie dazu beitragen, die Therapiebereitschaft der Patienten zu stärken?
- Wie kann die qualifizierte Entzugsbehandlung den Übergang in eine Entwöhnungsbehandlung vorbereiten, und welche Herausforderungen sind dabei zu berücksichtigen?
- Welche psychotherapeutischen Ansätze (z. B. kognitive Verhaltenstherapie, Rückfallprävention) sind in der Entwöhnungsbehandlung besonders wirksam, um langfristige Abstinenz zu erreichen?
- Wie können Patienten in der Entwöhnungsbehandlung dabei unterstützt werden, neue Bewältigungsstrategien für Stress und Craving zu entwickeln?
- Welche Rolle spielt die Einbindung von Angehörigen und sozialen Netzwerken in der Entwöhnungsbehandlung, und wie kann dies konkret umgesetzt werden?
- Wie wird in der Entwöhnungsbehandlung auf die individuellen Bedürfnisse und Lebensumstände der Patienten eingegangen, um eine nachhaltige Verhaltensänderung zu fördern?
- Welche Medikamente werden in der Behandlung der Alkoholabhängigkeit eingesetzt?
- Beschreiben Sie deren Wirkmechanismus und Anwendungsgebiet?
- Welche Rolle spielt die Kombination aus medikamentöser Behandlung und psychotherapeutischen Interventionen in der langfristigen Therapie der Alkoholabhängigkeit?
- Wie werden Nebenwirkungen und mögliche Interaktionen der Medikamente (z. B. mit anderen Substanzen oder Begleiterkrankungen) in der Behandlung der Alkoholabhängigkeit berücksichtigt und gemanagt?
- Warum kommt in der klinischen Praxis eine medikamentöse Behandlung von Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit seltener zur Anwendung, als es die Evidenz und Leitlinien nahelegen?
- Unter welchen Bedingungen und bei welchen Patientengruppen kann kontrolliertes Trinken als Therapieziel in Betracht gezogen werden, und welche Kriterien sind für die Indikation entscheidend?
- Welche Methoden und Strategien werden im Rahmen des kontrollierten Trinkens eingesetzt? 27 Wie beschreiben Prochaska und DiClemente die verschiedenen Stufen der Veränderung (z. B. Absichtslosigkeit, Vorbereitung, Handlung), und welche Merkmale kennzeichnen jede Stufe?
- Welche Rolle spielt die Stufe der „Absichtslosigkeit“ im Veränderungsprozess, und wie können Therapeuten Patienten in dieser Phase unterstützen, ohne Widerstand zu provozieren bzw. Reaktanz hervorzurufen?
- Wie kann das Transtheoretische Modell genutzt werden, um den Fortschritt von Patienten in der Therapie zu bewerten und die Behandlung individuell anzupassen?
- Welche Herausforderungen ergeben sich, wenn Patienten in der Stufe der „Rückfallphase“ sind, und wie können sie dabei unterstützt werden, erneut in den Veränderungsprozess einzusteigen?
- Was versteht man unter Motivational Interviewing?
- Welche Grundprinzipien sind zentral für das Motivational Interviewing, und wie tragen sie zur Förderung der Veränderungsmotivation bei?
- Wie kann das Motivational Interviewing eingesetzt werden, um Patienten in der Stufe der „Ambivalenz“ zu helfen, ihre eigene Motivation für eine Verhaltensänderung zu entdecken?
- Welche spezifischen Techniken werden im Motivational Interviewing verwendet?
- Wie lässt sich das Motivational Interviewing mit anderen Therapieansätzen (z. B. kognitive Verhaltenstherapie) kombinieren, um die Wirksamkeit der Behandlung zu erhöhen?
- Warum wurde das Transtheoretisches Modell der Veränderung und das Motivational Interviewing so populär? Warum ist es sinnvoll die beides zu kombinieren?
- Nennen Sie zwei Regeln des Motivational Interviewing.
- Welche spezifischen sozialen Kompetenzen werden im Rahmen des Trainings bei Patienten mit Alkoholabhängigkeit gefördert?
- Wie kann das Soziale Kompetenztraining dazu beitragen, Rückfälle bei Patienten mit Alkoholabhängigkeit zu verhindern?
- Welche Rolle spielt die Gruppendynamik in einem Sozialen Kompetenztraining?
- Wie lässt sich das Soziale Kompetenztraining individuell an die Bedürfnisse und Fähigkeiten von Patienten mit Alkoholabhängigkeit anpassen?