2  Affektive Störungen: Symptomatik

Veröffentlichungsdatum

01/02/2025

2.1 Einleitung

Affektive Störungen sind psychische Erkrankungen, die sich hauptsächlich durch Störungen der Stimmung oder des Affekts (emotionale Zustände) auszeichnen. Diese Störungen beeinflussen stark die Art und Weise, wie eine Person Emotionen erlebt, reguliert und ausdrückt.

2.2 Erfahrung mit Depression

Folgender Erfahrungsbericht macht deutlich, was in Menschen vorgeht, die unter einer Depression gelitten haben:

“Die ersten Anzeichen einer Depression liegen bei mir schon lange zurück. Da war ich 17 oder 18 Jahre alt. Jetzt bin ich 46 Jahre. Ich habe diese Anzeichen damals aber nicht mit einer Erkrankung in Verbindung gebracht.

Meine schulischen Leistungen wurden immer schlechter

Ich war in der Schule immer eine gute bis sehr gute Schülerin. Ab etwa der 10. Klasse habe ich aber gemerkt, dass es mir immer schwerer fiel zu lernen und mich zu konzentrieren. Ich bin leistungsmäßig stark abgesackt, habe mich überfordert gefühlt und konnte mir das überhaupt nicht erklären. In der anschließenden Ausbildung lief dann wieder alles ganz gut und ohne Probleme. Dann trat ich mein Studium an und die Anzeichen kamen wieder. Ich habe die Anforderungen meines Lebens damals nicht mehr auf die Reihe bekommen. Es wurde mir alles zu viel. Auch zu Hause. Manchmal habe ich ohne Grund angefangen zu weinen, richtig heftig zu weinen. Heute würde ich das als viele kleine Nervenzusammenbrüche bezeichnen. Nach einer gewissen Zeit habe ich mich aber immer wieder gefangen und konnte mein Studium abschließen.

Ich habe gedacht, dass ich mich nur zusammenreißen muss

Nach dem Studium musste ich mir eine Arbeitsstelle suchen. Ich saß jedoch monatelang bei mir zu Hause auf dem Sofa und habe Löcher in die Luft gestarrt. Ich habe es nicht geschafft, mich zu bewerben. Mein damaliger Freund hat gearbeitet und ich habe zu Hause gesessen. Ich habe damals nicht gedacht, dass ich krank sein könnte. Ich hatte eher den Eindruck, dass ich nicht richtig funktioniere, nicht so wie die anderen. Ich habe dann wieder irgendwann allein die Kurve gekriegt: Bin aus dem Loch rausgekommen, habe mich beworben, eine Stelle bekommen und war wieder im ganz normalen Leben. Aber auch in den guten Zeiten kam ich mir anders vor als Freunde und Kollegen, hatte vor allem weniger Energie. Und ich bin immer wieder in solche tiefen Löcher gefallen.

Einmal war der Freund einer Bekannten an einer schweren Depression erkrankt und war in Therapie. Ich habe diese Bekannte gefragt, ob ich so etwas auch haben könnte. Sie meinte dann nur: „Nee, du doch nicht. Du musst dich nur mal zusammenreißen.” Das war für mich wie ein Schlag ins Gesicht. Aber ich habe ihr das geglaubt. Diese Erfahrung hat sich tief in mich eingegraben und hat es mir viele Jahre schwer gemacht, Hilfe zu holen.

Ich bin dann auch körperlich erkrankt. Ich bekam in Lebenskrisen immer eine Augenentzündung. Die Ärzte haben mich auf den Kopf gestellt und keine Ursache gefunden. Aber immer, wenn in meinem Leben etwas nicht stimmte, kam die Entzündung zurück.

Gute Phasen wechselten sich mit schlechten Phasen ab

Diese depressiven Phasen wechselten sich mit guten Phasen ab. Ich bin oft so zwei, drei Jahre gut zurechtgekommen. Und dann gab es Zeiten, wo ich über Monate nicht klarkam. Nach einer Trennung von meinem damaligen Partner bin ich dann tatsächlich zu einem Psychiater gegangen, nachdem ich in Heulkrämpfen zusammengebrochen bin und wie gelähmt war. Mir war klar, dass das kein normaler Trennungsschmerz mehr war. Der Arzt sprach zum ersten Mal von Depressionen und einer Therapie, aber ich bekam Angst, wollte das nicht und bin nicht mehr hingegangen. Ich saß zu Hause wie ein Häufchen Elend. Erinnerungen kamen hoch. Ich wusste, was in meiner Kindheit und Jugend schief gelaufen war und habe einen Deckel draufgehalten. Ich habe damals gedacht, wenn dieser Deckel ein klein wenig angehoben wird, dann läuft es über und überschwemmt mich. Ich wollte das damals nicht und habe beschlossen, alleine damit klarzukommen.

Einige Jahre später hatte ich bei der Arbeit einen großen Konflikt mit meinem Chef. Er übertrat eine Grenze und in mir zerbrach etwas. Ich bin nach diesem Konflikt immer wieder körperlich krank geworden, hatte zum Beispiel immer wieder Infekte. Ich war richtig von der Rolle. Zu Hause habe ich aber nicht gewusst, was ich machen soll und war nach Urlauben und Krankschreibungen froh, wieder arbeiten gehen zu können. Aber ich fing an, im Beruf Flüchtigkeitsfehler zu machen, habe Aufgaben nicht rechtzeitig fertigbekommen, habe mich total überfordert gefühlt und war sehr unkonzentriert.

Der Gedanke depressiv zu sein, fühlte sich jetzt „richtig” an

Die Situation auf der Arbeit spitzte sich weiter zu. Ich bin dennoch die ganze Zeit zur Arbeit gegangen und habe ständig gedacht: „Ich muss funktionieren, kann doch die Kollegen nicht im Stich lassen!” Ich bekam dann noch eine unberechtigte Abmahnung und hatte keine Kraft, mich dagegen zu wehren. In dieser Phase hat mich ein Freund angesprochen, ob ich eventuell Depressionen habe. Da hatte ich das Gefühl, dass er Recht haben könnte. Es fühlte sich „richtig” an und ich habe mir gesagt, dass jetzt endlich etwas passieren muss und ich mir Hilfe holen muss.

Ich habe dann nach einem Therapeuten gesucht. Bei mir im Ort war das nicht so schwer. Im ersten Gespräch habe ich Rotz und Wasser geheult. Ich war völlig durch den Wind, da Dinge angesprochen wurden, die ich mein ganzes Leben zugedeckelt hatte. Ich habe gedacht, ich rutsche ab und bekomme das nicht bewältigt und hatte das Gefühl, dass es nicht für mich passt. Aber ich habe auch gedacht, eine Therapie muss so sein.

Ich hatte nach den ersten Gesprächen wieder einen Zusammenbruch und habe stundenlang geweint und gezittert, so schlimm, dass ich da nicht mehr rauskam. Mein Freund hat dafür gesorgt, dass ich zum Arzt gehe und ich wurde krankgeschrieben. Dann habe ich wie gelähmt und betäubt zu Hause gesessen. Jede Bewegung kostete unendlich viel Kraft. Ich habe wirklich auf dem Sofa gesessen und mich nicht bewegt. Jede Bewegung war unendlich anstrengend und hat sich angefühlt, als wenn ich durch eine zähe Suppe laufe. Da war mir manchmal der Weg in die Küche, um mir etwas zu trinken zu holen, zu weit. Einkaufen war ein Projekt für den ganzen Tag. Mehr habe ich nicht geschafft. Das ging mehrere Wochen so. In dieser Zeit kündigte mir auch mein Arbeitgeber, was im Grunde nur eine große Erleichterung war.

Ich habe die richtige Therapeutin für mich gefunden

Ich habe dann die Therapie bei meiner ersten Therapeutin abgebrochen und aufgrund der Empfehlung eines Freundes Kontakt zu einer anderen Therapeutin gesucht. Im Erstgespräch wusste ich sofort: Sie ist es. Ich hatte gleich Vertrauen zu ihr. Es ging mir aber inzwischen so schlecht, dass meine Hausärztin mich erstmal in eine Klinik eingewiesen hat. Ich war drei Monate in dieser Klinik. Dort habe ich den Deckel aufgemacht und die ganzen Belastungen aus der Kindheit und Jugend rausgelassen. In der Klinik habe ich das erste Mal darüber gesprochen und es zugelassen. Mir wurde das erste Mal überhaupt klar, dass ich traumatisiert bin. Nach der Entlassung begann ich dann die ambulante Therapie.

Ich war später auch noch ein zweites Mal für zwei Monate stationär in einer Klinik. Es fing damals wieder mit den Symptomen an, dass ich mich fehl an meinem Platz gefühlt habe, unkonzentriert und überfordert war. Bei diesem zweiten Aufenthalt habe ich mich weiter intensiv mit meiner Geschichte auseinandergesetzt und bekam langsam wieder Boden unter den Füßen.

Ich war insgesamt sehr lange krankgeschrieben, die akute Krankheitsphase mit der Diagnose schwere Depression dauerte zwei Jahre. Dabei waren auch drei Monate in einer Tagesklinik, weil ich mit einer Therapiestunde pro Woche nicht zurechtkam.

Über die Tagesklinik wurde mir eine berufliche Rehabilitation vermittelt und nach zwei Jahren Krankschreibung und zwei Jahren medizinisch-beruflicher Rehabilitation konnte ich wieder anfangen, zu arbeiten. Aber Vollzeit arbeiten geht nicht mehr, dazu fehlt mir einfach die Kraft. Ich arbeite seitdem in Teilzeit und bin teilberentet.

Ich bin wieder lebensfähig

Ich bin jetzt aus der akuten Depression schon länger heraus und wieder lebensfähig. Ich mache heute eine zweite, analytische Therapie mit einer Traumatherapie und lerne, mit meiner Familiengeschichte zu leben. Ein wichtiges Thema für mich ist, Grenzen zu setzen und auf mich zu achten. Wenn andere auf mich zukommen und nach Hilfe fragen, fällt es mir immer noch sehr schwer, das auch mal abzulehnen. Es ist auch nach wie vor eine Aufgabe für mich, zu akzeptieren, dass ich leistungseingeschränkt bin und viele Pausen brauche. Man vergleicht sich immer mit anderen, aber es ist wichtig, dass man „bei sich bleibt”.

Ich habe auch mal eine verhaltenstherapeutische Psychotherapie ausprobiert. Das war irgendwie nicht das Richtige für mich. Die tiefenpsychologische Therapie fühlte sich für mich und meine Lebensgeschichte besser, passender an. Ich musste mich schon an die Tiefe der Gespräche gewöhnen. Aber ich habe gemerkt, dass dies ein Weg ist, an den für mich wichtigen Lebensthemen und an meiner Lebensgeschichte zu arbeiten. Das ist ein langer Weg. Aber ich kann schon viel besser Grenzen setzen. Und wenn ich es schaffe, dann bin ich immer stolz auf mich!

Medikamente sind nach wie vor unverzichtbar für mich

Ich nehme auch Medikamente. Die Antidepressiva haben mich damals überhaupt erst in die Lage versetzt, eine Therapie machen zu können, gesprächsfähig zu sein. Ich brauche die Medikamente auch heute noch. Wenn ich mal vergesse, die Tabletten zu nehmen, spüre ich das. Ich ziehe mich dann immer mehr zurück und alles wird zu viel. Für mich ist klar: Ich brauche die Medikamente und muss sie regelmäßig nehmen. Ich habe keine schlechten Erfahrungen mit Nebenwirkungen, bis auf den Umstand, dass ich etwas zugenommen habe. Aber das ist für mich nicht wirklich schlimm.

Depressionen haben nichts mit Zusammenreißen zu tun

Depressionen haben nichts mit Zusammenreißen zu tun. Depressionen können jeden treffen. Es gibt keinen Grund, sich dafür zu schämen. Ich erzähle nicht jedem von meiner Erkrankung. Aber wenn es die Situation für mich erforderlich macht, dann stelle ich klar, warum ich etwas nicht machen kann. Das kann sicher auch mal nach hinten losgehen, aber bisher habe ich immer Glück gehabt. Es wurde bisher immer akzeptiert und dann war oft der Umgang miteinander leichter. Bei meiner aktuellen Arbeitsstelle habe ich ein Riesenglück mit meinem Chef und meinen Kollegen. Mir wird großes Verständnis entgegengebracht. Es ist zum Beispiel meist kein Problem, wenn ich kurzfristig ein paar Tage Urlaub brauche, weil ich merke, dass es zu viel wird.

Es gab Zeiten, da habe ich keine Zukunft für mich gesehen. Mein Leben bestand aus den nächsten drei Tagen, weiter zu denken hat mir Angst gemacht. Ich war nie akut suizidal, aber der Gedanke war schon da, oft auch täglich. Wenn die Gedanken, mir das Leben zu nehmen, stärker wurden, habe ich mir Hilfe gesucht. Zum Beispiel bin ich zu meiner Ärztin gegangen oder habe auch mal bei der Seelsorge angerufen. Diese Gespräche haben mir aus meinem Tunnel und den Gedankenkreiseln herausgeholfen.

Die schönen Momente werden mehr, die Freude kommt wieder

Durch die Behandlung merke ich, wie es mir wieder besser geht und ich wieder Freude an Dingen spüre. Ich bin früher viel geritten. Und ich kümmere mich jetzt wieder um ein junges Pferd. Das macht mir richtig Freude. Und diese Freude hat in meinem Leben sehr lange gefehlt. Ich wusste gar nicht mehr, wie es sich anfühlt, wenn das Leben schön ist. Ich habe aber auch noch große Angst, dass es wieder so schlimm wird wie damals. Wenn es einem mal so extrem schlecht ging, vergisst man das nicht so leicht und es dauert lange, bis sich wieder Vertrauen in sich selbst aufbaut. Aber durch das in der Therapie Erlernte bin ich zuversichtlich.

Meine Diagnose lautete zuerst: wiederkehrende Depression. Mit der Zeit ist die Depression bei mir chronisch geworden. Aufgrund meiner Lebensgeschichte habe ich zusätzlich zur Depression auch eine posttraumatische Belastungsstörung und eine abhängige Persönlichkeitsstörung.

Ich finde es wichtig, dass sich Menschen trauen, Hilfe zu holen. Das kostet unendlich viel Kraft und Mut. Und Therapie ist auch richtig harte Arbeit. Wenn man zu einem Psychiater oder Psychotherapeuten gehen möchte, dann hat man in der Regel etliche Wochen Wartezeit. Aber man darf da nicht aufgeben. Manchmal rutscht man irgendwo dazwischen. Notfalls kann man auch jemand anderen bitten, einen Termin für sich zu vereinbaren. Und man braucht manchmal etwas Zeit, bis man den Therapeuten findet, bei dem man sich aufgehoben fühlt. Es kann sein, dass man Geduld und einen langen Atem braucht, bis man den findet, der passt.

Eine Möglichkeit der zusätzlichen Unterstützung ist eine Selbsthilfegruppe. Eine Psychotherapie ist ja irgendwann zu Ende oder in der Zeit, in der man auf einen Therapieplatz oder einen Termin bei einem Psychiater oder Psychotherapeuten wartet, tut manchen Menschen eine Selbsthilfegruppe gut. Es kann schon ein wenig Überwindung kosten, den ersten Kontakt zu einer solchen Gruppe aufzunehmen. Aber man ist da unter Menschen, die das Problem genau kennen und einen verstehen.

Wie offen man mit seiner Erkrankung umgeht, ist eine ganz individuelle Sache. Das muss jeder für sich entscheiden. Ich habe für mich den Weg der Offenheit gewählt und komme damit sehr gut zurecht.”

Auf der Internetseite gesundheitsinformation.de finden sich im Bereich Erfahrungsberichte noch zwei weitere eindrückliche Berichte. Auch auf der Internetseite der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention kommen in kurzen Videos betroffene Menschen zu Wort.

2.3 Erfahrung mit Manie und Depression

Der nachfolgend abgedruckte Erfahrungsbericht stammt von der Internetseite der taz:

“In mir herrscht Krieg. Ich habe einen inneren Feind, gegen den ich immerzu kämpfe. Gegen diesen Feind schicke ich meine Heerscharen, aber die kommen geschlagen zurück. Noch habe ich nur Schlachten verloren. Den Krieg darf ich nicht verlieren.

Das Absurde aber ist: Mir ist gar nicht richtig klar, warum ich gegen diesen Feind überhaupt kämpfe. Der ist doch ein Teil von mir. Zwar ein Teil von mir, den ich nicht erklären kann, der auch gern den Schalter umlegt, mal in die, mal in die andere Richtung – aber eben ein Teil von mir. Ich muss versuchen, eine halbwegs vernünftige Koexistenz herzustellen, wenn ich mit der Bipolaren Störung umgehen will. Aber befrieden kann ich den Zustand nicht. Der Krieg in mir wird den Rest meines Lebens weitergehen.

Was mit mir los ist, wurde richtig klar 2014, da war ich 44 Jahre alt. Das Jahr war eine Zäsur. Ich ging mit Freunden auf eine Reise, die gründlich schief ging. Geplant war ein Segeltörn von New York nach Deutschland. Schon New York hat mich gestresst, die Stadt war so laut und wahnsinnig heiß. Als wir dann aus New York raus gefahren sind, den Hudson hinunter, vorbei an der Freiheitsstatue, habe ich den Anker eingepackt – und mir wurde schlecht. Zuerst dachte ich noch: Ist ja normal, ich habe ja gerade nach unten geguckt. Oder ich bin seekrank. Aber das ging nicht mehr weg. Das war dann doch eine andere Nummer.

Mir war permanent komisch auf dieser Reise – außer, es ist gerade was passiert, es waren Wale da oder irgendeine Action, wie an dem Tag, an dem wir jemanden aus Seenot gerettet haben. Ansonsten habe ich in meiner Koje gelegen und trübe vor mich hingestarrt. Alles war schlimm und schrecklich. Die anderen haben irgendwann Angst bekommen, dass ich über die Reling hüpfe, und beschlossen, dass ich nach Hause muss. Also sind wir abgebogen zu den Bermudas. Von da aus bin ich dann zurückgeflogen, begleitet von einem meiner Freunde.

Über den Sommer habe ich mich erholt, hatte in der Freien Schule, in der ich damals als Geschäftsführer arbeitete, viel zu tun und dachte, mir geht’s wieder gut. Bis mich die Kollegen eines Tages zum Teamgespräch geladen und mir gesagt haben: So, Jens, du packst jetzt deine Sachen, gehst nach Hause, lässt dich krankschreiben und kommst mindestens zwei Wochen nicht wieder.

Ich habe gar nicht verstanden, was die meinen, was die von mir wollen. Die sagten: Du bist unerträglich, ein völliger Kontrollfreak. Du bist unfassbar nervig und gereizt. Okay, hab ich mir da gesagt, geh ich morgen halt mal zu meiner Hausärztin. Und die hat mich dann direkt einweisen wollen. Das war noch komischer, das habe ich erst recht nicht verstanden, mich aber trotzdem krankschreiben lassen.

Also habe ich zu Hause rumgehangen, und mich mit meiner Frau so schwer gestritten, so existenziell, das sie mir nach 19 Jahren Ehe mit Trennung gedroht hat. Am darauf folgenden Tag bin ich völlig zusammengeklappt: Ich habe nur noch geheult, ich konnte mich nicht mehr bewegen, ich war tief verzweifelt. Ein Freund hat mich in die Klinik gebracht, da haben sie mich erst einmal zwei Wochen ruhiggestellt.

Dann ging die Diagnostik los, aber das ist nicht ganz einfach. Schon weil die Bipolare Störung so ein breites Spektrum hat. Man kann nicht sagen: Die Störung beginnt hier und endet dort. In meiner Selbsthilfegruppe erzählt keiner dieselbe Geschichte, die Krankheitsverläufe sind immer anders. Bei den einen geht das im Wochentakt oder sogar täglich hoch und runter, das nennt man Rapid Cycling. Bei anderen baut es sich ganz langsam auf, da können die Perioden anderthalb Jahre dauern. Andere fliegen ein paar Tage ab, wie man das aus dem Kino kennt.

Bei mir war das zudem noch schwieriger zu diagnostizieren, weil ich ein Hypomaniker bin. Das heißt, man merkt nicht so richtig, dass ich manisch werde. Es steigert sich langsam über Wochen, manchmal Monate, und ich funktioniere auch in der Manie noch ganz gut. Während schwere Maniker Haus und Hof versetzen, laufe ich zur Hochform auf, bin unheimlich kreativ, schaffe viel weg, fange aber auch irrsinnig viel an und bringe es nicht zu Ende.

Ich war bei einer Reha, aber da hatten sie nicht wirklich eine Ahnung, was bipolar bedeutet, und haben mich machen lassen: In den sechs Wochen habe ich ein Buch gemacht, einen dicken Folianten mit Gedichten und Zeichnungen, dazu noch eine ganze Serie mit anderen Arbeiten, ich hab für meine Frau eine Isländer-Strickjacke gestrickt und mich nebenbei noch in eine Mitpatientin verliebt, die gar nichts von mir wollte. Aber da steckte ich eben schon mitten im Wahn, ohne es zu merken. Mit Anfang 20 habe ich mal ein Theaterstück geschrieben und wollte das dann nicht nur inszenieren, sondern auch gleich die Hauptrolle übernehmen, die Kostüme, alles. Am Schluss war ich fest überzeugt: Ich bin ein großer Künstler! Ich kann alles!

Der Wahn ist gigantisch. Plötzlich ist der Himmel offen, und ich habe das Gefühl, alles schaffen zu können. Aber man kriegt dann eben auch sein Leben nicht mehr geregelt, der Alltag ist einem egal. In solchen Phasen würde ich am liebsten alles hinschmeißen, den Job, die Beziehung, und nur noch Kunst machen. Aber das hält eben nur eine Weile an, und dann macht es puff, und alles ist vorbei, und man fällt in die Depression.

Die Depression ist dann, als würde mir jemand Tropfen für Tropfen Blei ins Hirn gießen. In letzter Konsequenz ist es wie eine Starre, aus der ich nicht mehr herauskomme. Außerdem tut mir auch körperlich alles weh, der ganze Körper schmerzt. Und mir ist ständig kalt, ich lege mich jeden Tag in die Badewanne. In solchen Augenblicken denke ich, ich habe keine Haut mehr.

Und dann kommen natürlich die Suizidgedanken. Ich stand schon mal an einer der meist befahrenen Bahnstrecken Europas, da kommt alle paar Minuten ein Zug lang. Aber ich konnte mich nicht vor einen werfen, weil mir der Lokführer leid tat. Letztes Jahr wollte ich auf die Autobahn rennen, aber ich machte mir Sorgen um den Lkw-Fahrer. Tatsächlich sind es solche Gedanken, die mich schon ein paarmal gerettet haben.

2014 in der Klinik sollte ich mein Leben aufschreiben, meine Stimmungsbrüche protokollieren. Da habe ich zwei Tage drüber gesessen – und dann haben wir festgestellt, dass es immer schon so war. Spätestens mit 17 hatte ich die erste heftige manische Episode, gefolgt von einer schweren Depression. Da erst wurde mir klar, dass über Jahre in Abständen immer wieder dasselbe passierte: Auf Phasen extremer Aktivität folgte ein Zusammenbruch, einmal auch mitten auf der Straße. Doch da wurde gesagt: Das ist ja normal, der hat zu viel gearbeitet, und jetzt ist er halt schlapp. Das hieß mal Überlastungssyndrom, später Burnout. Da macht man eine Pause, vielleicht eine Therapie, und dann geht es wieder.

Nach acht Wochen in der Klinik stand die Diagnose fest: Bipolare Störung. Seitdem werde ich mit Medikamenten eingestellt.

In der Zeit danach war ich erst einmal sehr wütend, weil mir bewusst wurde, um was es ging: Der Jens, der ich bin, wurde von allen und auch von mir selbst zum Kranken erklärt. Der sollte jetzt ein Medikament wie Lithium nehmen, das ihn unter eine Käseglocke verbannt, ihn gefühllos macht.

Vor unserem Haus steht eine Kletterrose. Ein irres Ding, das quasi explodiert, wenn sie blüht. Das sind Gerüche und Farben, Wahnsinn. Wenn ich unter Lithium bin, dann weiß ich nur, dass die Rose schön ist. Aber ich spüre es nicht mehr.

Noch schlimmer: Die Medikamente produzieren einen Jens, der angeblich normal ist, den ich aber gar nicht kenne. Dagegen habe ich mich lange gewehrt. Ich wollte das nicht wahrhaben und habe gesagt: Leckt mich doch, ich bin eben so. Geht doch selber damit um! Von angeblich normalen Menschen wird doch auch nicht erwartet, anders zu sein als sie sind. Von mir aber wird etwas verlangt, was ich nicht leisten kann. Was ich nur unter dem Einfluss von Medikamenten leisten kann.

Von außen kommt ganz viel Unverständnis. Denn es gibt ein großes Missverständnis zwischen den Bipolaren und ihrer Umwelt: Ich kann niemandem, absolut niemandem beschreiben, wie ich mich fühle. Jemand, der keine Depressionen hat, dem kann man nicht vermitteln, was eine Depression ist. Ich kann umschreiben, immer neue Adjektive finden. Aber die anderen können nicht wissen, wie man sich fühlt.

Mir ging das ja selbst so: Ich habe vorher ja auch gehört, was andere über Depressionen oder die Manie berichten, ich habe Bücher gelesen. Trotzdem wusste ich nicht, dass ich krank war, weil es bei mir ganz anders war.

Vielleicht kann man es so erklären: Ich sitze in einem Rollstuhl, nur sieht ihn keiner. Ich bin wie ein Rollstuhlfahrer, der nach dem Unfall versuchen muss, sein Leben im Rollstuhl zu leben, der sich damit arrangieren muss. Ich hoffe, ich lerne mit dem Rollstuhl zu leben. Aber ich weiß, ich werde nie wieder aus dem Rollstuhl rauskommen.

Bloß verlangt niemand von einem Rollstuhlfahrer, dass er aufsteht und geht. Von Bipolaren wird das verlangt. Wir müssen diese mehr oder weniger schrecklichen Medikamente nehmen, damit wir normal werden – was immer das ist. Das heißt aber, dass ich meine innere Normalität verleugnen muss, und das verletzt mich: Ich darf nicht mehr der sein, der ich eigentlich bin.

Ich verstehe dieses Ansinnen total, denn wir sind zeitweise schlimm anstrengend. Aber ich empfinde es auch als extrem verletzend, dass ich mich mit Medikamenten kastrieren soll. Dass ich ständig auf mich selbst achten muss. Andere dürfen doch auch einfach sie selbst sein.

Schließlich habe ich doch jahrelang wie jeder andere daran geglaubt, dass ich der bin, der ich bin. Jemand, der kreativ ist, der viel schafft. Ich habe immer Kunst gemacht, gemalt und gebildhauert, ich war Meisterschüler an der Hochschule der Künste in Berlin, ich habe ausgestellt. Wir haben in der Prignitz ein Haus gekauft und ausgebaut, eine kleine Firma aufgebaut, wir haben Kräutertee hergestellt und verkauft, nebenbei habe ich mitgeholfen, dort in der Einöde eine freie Schule aufzubauen. Nachdem wir in die Nähe von Dresden umgezogen sind, haben wir einen zweiten Hof renoviert, und die Freie Schule Dresden wurde mit mir als Geschäftsführer immer größer, Schulneubau inklusive. Und das alles, während wir vier Kinder großgezogen haben.

Im Nachhinein betrachtet klingt das auch für mich irre und überfordernd, aber damals war das völlig normal. Ich war so. Ich habe Sachen in meinem Leben geschafft, auf die ich stolz bin. Sachen, die manch anderer nicht geschafft hätte. Sachen, die ich aber eben ohne die Störung vielleicht nie angegangen hätte, vielleicht nie geschafft hätte.

Aber jetzt soll ich etwas ganz anderes sein. Der Jens, den ich kenne, der ist seit der Diagnose krank. Der Jens ist jetzt bipolar, und das geht nicht. Ich soll jetzt ein anderer Jens sein, ich soll der normale Jens sein. Aber dieser Jens will ich eigentlich nicht sein.

Es ist nur die Vernunft, die mir sagt: Versuche dieser normale Jens zu sein. Denn mittlerweile habe ich verstanden und akzeptiert, dass ich die Krankheit in den Griff bekommen muss, weil sie selbstzerstörerisch ist. Weil mein Rücken, mein ganzer Körper die manischen Phasen auf Dauer nicht mitmachen würde, weil ich meine Frau nicht verlieren will, nicht verlieren kann, weil ich meine sozialen Beziehungen nicht zerstören will, weil ich mich irgendwann umbringen würde. Also nehme ich meine Medikamente.

Das Lithium, das ich früher nehmen musste, war schrecklich. Das hat mich lahmgelegt und dafür gesorgt, dass die Phasen sich zum Teil täglich abgewechselt haben. Mittlerweile nehme ich ein neues Medikament, das heißt Quetiapin und ist zwar sehr viel besser, aber auch das hat Nebenwirkungen. Ich muss genau planen, wann ich es einnehme, weil ich manchmal eine Stunde später einfach ausgeschaltet werde und einschlafe.

Eine andere Nebenwirkung ist, dass ich mich an fast jeden Traum erinnern kann. Ich wache morgens auf und statt die Träume zu vergessen wie andere, verfolgen sie mich den ganzen Tag lang. Einige sind so präsent, die muss ich aufschreiben, sonst werde ich sie nicht mehr los. Letzte Nacht habe ich zum Beispiel geträumt, ich bin Regaleinräumer in einem Großmarkt. Aber ich mache alles falsch, was man falsch machen kann. Und jedes Mal, wenn ich etwas falsch mache, wird mir nach einem komischen Punktesystem etwas vom Lohn abgezogen, so dass ich am Schluss gar nichts mehr verdiene. So was ist noch kein echter Albtraum, aber wenn man das dann den ganzen Tag mit sich rumschleppt, ist das auch scheiße.

Es gibt auch richtige Albträume, wo ich nachts schreiend aufwache, weil ich ermordet werde. Oft haben sie mit meiner Familie zu tun, zum Beispiel: Vater fliegt ein Flugzeug. Mutter steigt auf die Tragfläche, redet die ganze Zeit, bindet sich fest und stellt sich wie ein Artist vor das Cockpit. Ich klammere mich an auf der Tragfläche liegende Seile und habe furchtbare Höhenangst. Vater sitzt jetzt am Ende der Tragfläche und lacht. Später beschimpfe ich ihn wegen seiner Ignoranz und werfe Meißner Teller mit Zwiebelmuster, von denen nur der Rand etwas angeschlagen ist.

Ich weiß, ich werde nie gesund werden. Die Bipolare Störung heißt nicht umsonst Störung und nicht Krankheit, weil das suggerieren würde, sie wäre heilbar. Ich bin nicht krank, ich bin so. Das ist das Problem.

Man kann nur versuchen, mit den Medikamenten die höchsten Spitzen und die tiefsten Tiefen zu kappen. Jemand, der nicht bipolar ist, kann sich das wahrscheinlich nicht vorstellen: Ich kapiere nicht, dass ich in einer Notsituation stecke. Ich registriere schon, dass alles schräg ist, dass Menschen auf mich seltsam reagieren, aber ich denke dann nicht daran, mir helfen zu lassen.

Es gibt beispielsweise gemischte Episoden, in denen man gleichzeitig manisch und depressiv ist. Das sind eigentlich die gefährlichsten Situationen. Mitten in so einer Episode bin ich einmal losgelaufen und meinte, Deutschland zu Fuß durchqueren zu müssen. Ich bin kreuz und quer durch die Gegend gewandert. Von Dresden nach Leipzig, mit dem Zug nach Prenzlau, von dort an die Ostsee, die ganze Küste lang und das Grüne Band, also die ehemalige innerdeutsche Grenze, bis zum Brocken, durch den Südharz und das Saaletal.

Insgesamt waren es 1.300 Kilometer in sechs Wochen, manchmal bin ich mehr als 50 Kilometer am Tag gelaufen. Ich hatte so viel Druck im Kopf, so viel Druck auf den Schultern, ich wusste, dass etwas Blödes passieren würde, wenn ich nicht weiterlaufe. Kurz vorm Saaletal war der Druck dann so groß, dass ich das Bedürfnis hatte, mich umzubringen. Dann bin ich von da aus nach Bad Kösen in eine Reha-Klinik gelaufen, die ich schon kannte, damit die mich auffangen.

Deshalb ist es wahnsinnig wichtig, dass man ein funktionierendes soziales Umfeld hat. Menschen, die einen auffangen und notfalls eben einweisen. Denn eine schwere Depression bedeutet: Wenn ich jetzt nicht in die Klinik komme, bringe ich mich wahrscheinlich um.

Viele Bipolare haben aber kein funktionierendes soziales Umfeld mehr, weil sie es im Wahn zerstört haben. Ich habe meine Frau, ich habe einen Freundeskreis, eine Arbeit. Meine Frau und unsere beiden besten Freunde haben sich schon zwei-, dreimal zusammengesetzt und mir anschließend die Pistole auf die Brust gesetzt: Du musst jetzt in die Klinik.

Doch wird das Umfeld koabhängig von meiner Störung, vor allem meine Frau natürlich. Die hat den ganzen Scheiß dann allein an der Backe, muss sich nicht nur um mich kümmern, sondern auch um die Kinder, um den Hof, um alles, was liegen bleibt, weil ich depressiv in der Ecke hänge oder in der Klinik bin. Ihr Leben und zum Teil auch das meiner Kinder muss sich während der Episoden nach mir ausrichten: Der Kranke mit seinen Höhen und Tiefen bestimmt das Leben aller anderen. Dass meine Frau trotzdem bei mir bleibt, ist auch der Beweis, wie sehr sie mich liebt.

Deswegen trage ich aber auch immer eine Schuld mit mir herum. Es sagt zwar niemand zu mir: Du bist doch wieder manisch! Du bist doch wieder depressiv! Aber ich hinterfrage das andauernd. Ich beobachte mich ständig selbst. Das ist eine permanente unfreiwillige Selbstkontrolle. Immerzu frage ich mich: Bin ich normal? Oder schon manisch? Oder depressiv? Heute, wenn ich auf Arbeit einen Fehler mache, dann sage ich mir nicht: Jeder macht mal einen Fehler. Stattdessen frage ich mich: War das jetzt die Krankheit?

Ich darf nicht einfach leben wie andere, ich muss immerzu mich selbst reflektieren und jede meiner Handlungen hinterfragen. Das nervt, das ist wahnsinnig anstrengend. Diese ständige Schuld werde ich nicht los.

Auf der anderen Seite hilft einem die Gesellschaft nicht. Es ist klar, dass ich keine 40 Stunden die Woche arbeiten kann, weil mich der Stress so antriggern würde, dass eine manische oder depressive Periode ausgelöst werden würde. Und so ein Aufenthalt in der Psychiatrie ist kein Spaß, das ist großer Scheiß. Weggesperrt zu werden, weil du dich im Ernstfall umbringen könntest.

Also habe ich einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente gestellt. Es ist klar, ich habe diese Störung. Es ist klar, dass ist eine der zehn schlimmsten psychischen Störungen, die es gibt. Es ist klar, bis zu 30 Prozent der Bipolaren bringen sich um. Aber ich kriege keine Erwerbsminderungsrente, weil ich nicht vor 1961 geboren wurde. Das ist die Begründung. Es gibt einen Stichtag, ab dem kriegt man die Rente nicht mehr. Stattdessen sagen Rentenversicherung und Arbeitsamt: Wenn ich den Job, den ich mache, nicht mehr machen kann, soll ich mir einen neuen suchen. Aber das ist totaler Quatsch: Dieser Job ist ja gerade ein wichtiger Teil meines sozialen Umfelds, das ich brauche, um mit der Störung leben zu können, weil es akzeptiert, dass ich jederzeit ausfallen kann.

Das Amt will das nicht verstehen. Da ist man verzweifelt. Ich sage mir dann selber: Steh doch einfach auf aus deinem Rollstuhl und fang an zu laufen. Das ist so entwürdigend: Ich bin krank, hab diese scheiß Kiste an der Backe, die Gesellschaft erwartet von mir, ihre Normen einzuhalten, aber weil man es mir nicht ansieht, habe ich nichts zu erwarten. Darunter leide ich sehr.

Wenn ich in meine Familiengeschichte blicke, dann ist das alles keine Überraschung: Eine Großmutter und wahrscheinlich auch ein Großvater haben Selbstmord begangen. Mein Vater hat sich in Raten umgebracht mit Alkohol, Nikotin und Kaffee. Auch meine Mutter hat versucht, sich umzubringen, und außerdem ist sie möglicherweise eine Borderlinerin: Man konnte nie sicher sein, ob man sich eine einfing oder ob sie im nächsten Moment mit einem durchs Zimmer tanzte.

Ich bin nicht wütend auf meine Eltern, jedenfalls nicht, weil sie selbst irgendetwas in sich getragen haben. Aber weil sie sich nicht gekümmert haben. Ich finde nicht, sie hätten unbedingt eine Therapie machen müssen. Aber sie hätten sich um sich – und damit auch um mich und meine Brüder – kümmern müssen. Stattdessen haben sie mir das alles unreflektiert mitgegeben. Vielleicht konnten sie das damals nicht anders.

Ich habe mit meinen Kindern gesprochen. Ich beobachte meine Kinder sehr genau, ob ich Symptome an ihnen erkennen kann. Und ich habe ihnen gesagt, dass sie auf sich achten sollen. Zum Glück ist bislang kaum etwas zu sehen, ich hoffe natürlich, das bleibt so. Natürlich tut mir leid, dass ich ihnen womöglich etwas mitgegeben habe, zumindest die Veranlagung dazu, aber was soll ich tun? Ich kümmere mich wenigstens. Ich habe drei Psychotherapien hinter mir und in den letzten fünf Jahren etwa acht Monate in Kliniken verbracht.

Mit dem neuen Medikament komme ich besser klar. Zu Beginn der depressiven Phase, in der ich gerade bin, hatte ich das erste Mal das Gefühl: Ja, jetzt beginnt eine Depression, aber ich komme aus der auch wieder raus. Das ist schon eine Verbesserung. Das Loch ist immer noch genauso schwarz. Zumindest glaube ich daran, dass ich es wieder verlassen werde.”

Weitere Erfahrungsberichte

Eine weiterer sehr eindrucksvoller Lebensbericht stammt von dem Schriftsteller Thomas Melle (Melle, 2016). In seinem Buch “Welt im Rücken” erzählt er von seinem Umgang mit der Krankheit, von persönlichen Dramen und langsamer Besserung – und gibt so einen außergewöhnlichen Einblick in das, was in einem Erkrankten vorgeht.

Ebenfalls sehr lesenswert ist die Autobiographie von Kay Redfield Jamison, die auch von einer bipolaren Störung betroffen und gleichzeitig eine führende Forscherin in diesem Fachgebiet ist (Jamison, 2014).

Weitere Erfahrungsberichte finden sich auf der Internetseite der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen e.V.

2.4 Depression vs Manie

In der Tabelle 2.1 sind die zentralen Symptome einer Depression und einer Manie aufgeführt.

Tabelle 2.1: Depressive und manische Symptome
Depression Manie
Schwermut oder Niedergeschlagenheit oder Verzweiflung Gehobene, expansive oder gereizte Stimmung
Interessenlosigkeit Erhöhtes Erregungsniveau (teilweise aggressive Erregung)
Antriebsminderung Antriebssteigerung
Selbstwertverlust Rededrang (Logorrhoe)
exzessive oder unangemessene Schuldgefühle Ideenflucht
Wiederkehrende Gedanken an den Tod (Suizidalität) erhöhte Ablenkbarkeit
Kognitive Defizite (z. B. Konzentrations- und Gedächtnisprobleme) Vermindertes bzw. reduziertes Schlafbedürfnis
Psychomotorische Veränderungen (z. B. Unruhe, Agitiertheit, Verlangsamung) Gesteigerte Libido
Schlafstörungen (Ein- und/oder Durchschlafstörungen, morgendliches Früherwachen) Reduzierte soziale Hemmungen
Appetitstörungen Riskantes Verhalten
Unfähigkeit Freude empfinden zu können (Anhedonie) Selbstüberschätzung
verminderte Krankheitseinsicht



Abbildung 2.1 verdeutlich nochmals die beiden potentiellen Ausprägungen (Pole) einer affektiven Störung.

Abbildung 2.1: Manie und Depression

References

Jamison, K. R. (2014). Meine ruhelose Seele: die Geschichte einer bipolaren Störung. mvg Verlag.
Melle, T. (2016). Die Welt im Rücken. Rowohlt Verlag GmbH.