In diesem Kapitel wird eine kurze Übersicht über Leitlinien gegeben. Leitlinien sind nicht nur für die Psychotherapie relevant, sondern auch für die Entscheidungsfindung in anderen klinischen Bereichen und Situationen.
25.1 Einleitung
Leitlinien (guidelines) sind systematisch entwickelte Aussagen zur Unterstützung der Entscheidungsfindung. Durch Leitlinien soll die Transparenz medizinischer Entscheidungen gefördert werden.
Sie werden entwickelt, indem zu speziellen Versorgungsproblemen Wissen aus unterschiedlichen Quellen zusammengetragen und gewertet wird. Zudem ist eine Berücksichtigung und Diskussion gegensätzlicher Standpunkte und besonderer situativer Erfordernisse wichtiger Bestandteil.
Leitlinien entbinden den Arzt/die Ärztin nicht von der Überprüfung der individuellen Anwendbarkeit im konkreten Fall, sie dienen lediglich als Entscheidungshilfen und sind rechtlich nicht verbindlich. Dies unterscheidet sie von Richtlinien.
Ziele von medizinischen Leitlinien sind:
- Qualitätssicherung: Sie sollen die Qualität der medizinischen Versorgung verbessern, indem sie evidenzbasierte Praktiken fördern.
- Standardisierung: Leitlinien helfen, eine einheitliche Vorgehensweise in der Diagnostik und Therapie zu etablieren.
- Entscheidungshilfe: Sie bieten Ärzten und Patienten eine fundierte Grundlage für medizinische Entscheidungen.
- Transparenz: Leitlinien machen die Gründe für bestimmte medizinische Maßnahmen nachvollziehbar.
Kritik an Leitlinien
Leitlinien können manchmal als zu starr empfunden werden und individuelle Patientensituationen nicht ausreichend berücksichtigen. Die Umsetzung von Leitlinien in die tägliche Praxis kann schwierig sein. Die Einflussnahme durch pharmazeutische Unternehmen oder andere Interessengruppen kann die Objektivität der Leitlinienempfehlungen gefährden.
25.2 Systematik und Qualität von Leitlinien
In Abbildung 25.1 ist die Systematik und Qualität von Leitlinien dargestellt.
![](images/psychotherapy_guidlines_systematik.png)
S3-Leitlinien: Die höchste Entwicklungsstufe, die auf einer systematischen Literaturrecherche und einem formalen Konsensverfahren basiert. S2k-Leitlinien: Basieren auf einem informellen Konsensverfahren ohne systematische Literaturrecherche. S1-Leitlinien: Stellen Empfehlungen dar, die von einer Expertengruppe ohne formales Konsensverfahren erstellt wurden.
25.3 Leitlinienempfehlungen
Die Empfehlungen werden in den Leitlinien nach ihrer Evidenzstärke und klinischen Bedeutung klassifiziert. Die Graduierung der Empfehlungen in den verschiedenen Leitlinien ähneln sich. Es gibt jedoch Unterschiede in der Struktur und der Terminologie.
Die AWMF verwendet dabei folgende Graduierung:
- A: Starke Empfehlung, basierend auf hochwertiger Evidenz (z. B. mehrere randomisierte kontrollierte Studien).
- B: Empfehlung, basierend auf mittelgradiger Evidenz (z. B. einzelne randomisierte Studien oder hochwertige Beobachtungsstudien).
- C: Schwache Empfehlung, basierend auf geringer Evidenz (z. B. Expertenmeinungen oder Fallserien).
- 0: Offene Empfehlung, wenn keine ausreichende Evidenz vorliegt, aber ein Konsens unter Experten besteht.
25.4 Unterschiedliche Empfehlungen in den Leitlinien
Leitlinien kommen nicht immer zu den gleichen Empfehlungen, selbst wenn sie sich auf denselben medizinischen Bereich (z. B. psychische Störungen) beziehen. Dies liegt an einer Reihe von Faktoren, die die Entwicklung und Formulierung von Leitlinien beeinflussen (siehe Tabelle 25.1).
Grund für Unterschiede | Beschreibung | Beispiel |
---|---|---|
Unterschiedliche Evidenzbasis | Zugang zu unterschiedlichen Studien oder Bewertung der Studienqualität. | NICE berücksichtigt vor allem britische Studien, während die AWMF deutsche Studien stärker gewichtet. |
Unterschiedliche Methodik | Verwendung verschiedener Bewertungssysteme (z. B. AWMF vs. GRADE bei NICE). | NICE verwendet die GRADE-Methodik, die detaillierter ist als das AWMF-System. |
Kulturelle und systemische Unterschiede | Einfluss von Gesundheitssystemen und kulturellen Normen. | In Ländern mit begrenzten Ressourcen werden kostengünstigere Therapien empfohlen. |
Zielgruppen und Anwendungsbereich | Leitlinien richten sich an unterschiedliche Zielgruppen (z. B. Hausärzte vs. Fachärzte). | Leitlinien für Hausärzte sind oft praxisnäher und weniger detailliert. |
Interessenkonflikte und Einflussnahme | Finanzierung und Expertenmeinungen können die Empfehlungen beeinflussen. | Leitlinien, die von der Pharmaindustrie finanziert werden, betonen oft medikamentöse Therapien. |
Unterschiedliche Prioritäten | Abwägung zwischen Patientensicherheit, Wirksamkeit und Kosten. | NICE legt großen Wert auf Kosten-Nutzen-Analysen, während die AWMF dies weniger stark betont. |
Wichtig zu wissen ist auch, dass sich eine Leitlinienkommission aus zahlreichen Mitgliedern unterschiedlicher Profession zusammensetzen kann. Die Empfehlungen werden in der Kommission verabschiedet, wobei nicht alle Mitglieder einer Empfehlung zustimmen müssen. Abbildung 25.2 macht das deutlich.
![](images/psychotherapy_guidelines_votum.png)
Bei der in Abbildung 25.2 abgebildet Empfehlung geht es um diagnostische Maßnahmen, die routinemäßig bei Kindern und Jugendlichen mit Verdacht auf das Vorliegen einer ADHS eingesetzt werden sollen. Das Wort “sollen” weist auf eine starke Empfehlung hin. Die Angaben zur Zustimmung zu dieser Empfehlung macht deutlich, dass die überwiegende Mehrheit, aber nicht alle Mitglieder der Leitlinienkommission dieser Empfehlung zugestimmt haben.
COI steht für Conflict of Interest (Interessenkonflikt). Mitglieder, die einen COI angegeben haben, weil sie beispielsweise Autor eines Testverfahrens sind, nehmen an einer Abstimmung nicht teil.
25.5 Herausgeber von Leitlinien
Leitlinien basieren auf dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse und klinischen Erfahrungen und werden in der Regel von Fachgesellschaften, Expertenkommissionen oder anderen autorisierten Institutionen erstellt.
In der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) sind aktuell 184 medizinische Fachgesellschaften zusammengeschlossen. Ein wichtiges Ziel der AWMF ist die Förderung der fachübergreifenden Zusammenarbeit in der wissenschaftlichen Medizin und der Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die ärztliche Praxis. Seit 1995 koordiniert die AWMF über ihr Institut für Medizinisches Wissensmanagement (AWMF-IMWi) die Entwicklung medizinischer Leitlinien für Diagnostik und Therapie durch die Medizinischen Fachgesellschaften und gibt diese über das AWMF-Leitlinienregister heraus. In Abbildung 25.3 findet sich ein Ausschnitt aus der Leitlinienübersicht der AWMF.
![](images/psychotherapy_guidlines_awmf_auszug.png)
Neben der AWMF gibt es noch viele weitere nationale und internationale Gesellschaften und Institutionen, die Leitlinien herausgeben. In Tabelle 25.2 findet sich eine selektive Auswahl. Je nach Fachgesellschaft werden spezifische Schwerpunkte bei der Entwicklung der Leitlinie gesetzt. Beispielsweise fokussiert die Leitlinie der Fachgruppe Klinische Psychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) auf die Psychotherapie von Patienten mit psychischen Störungen.
Organisation | Beschreibung | Beispiel für Leitlinien |
---|---|---|
National Institute for Health and Care Excellence (NICE) | Britische Organisation, die evidenzbasierte Leitlinien entwickelt. | Depression, Angststörungen, Schizophrenie |
American Psychiatric Association (APA) | US-Fachgesellschaft für Psychiatrie, erstellt Diagnose- und Behandlungsleitlinien. | Bipolare Störungen, PTBS |
Fachgruppe Klinische Psychologie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) | Entwickelt Leitlinien mit Fokus auf psychologische Behandlungsansätze. | Psychotherapie bei Depressionen oder Angststörungen |
World Health Organization (WHO) | Erstellt internationale Leitlinien für psychische Störungen. | Behandlung von Depressionen in der primären Gesundheitsversorgung |
25.6 Das GRADE-System
Das GRADE-System (Grading of Recommendations, Assessment, Development, and Evaluations) ist ein international anerkanntes und standardisiertes System zur Bewertung der Qualität von wissenschaftlicher Evidenz und zur Formulierung von Empfehlungen in Leitlinien.
Die GRADE-Arbeitsgruppe hat einen gemeinsamen, sinnvollen und transparenten Ansatz zur Einstufung der Qualität (oder Sicherheit) von Nachweisen und der Stärke von Empfehlungen entwickelt. Viele internationale Organisationen haben zur Entwicklung des GRADE-Ansatzes beigetragen, der heute als Standard bei der Entwicklung von Leitlinien gilt.
Das GRADE wird weltweit von vielen Leitlinienorganisationen, wie z. B. der WHO, NICE und Cochrane, verwendet. Das GRADE-System zeichnet sich durch seine Transparenz und systematische Vorgehensweise aus. In einem sehr umfangreichen Handbuch wird das GRADE-System ausführlich erläutert.
Cochrane
Cochrane ist eine international renommierte, non-profit Organisation, die sich der evidenzbasierten Medizin (EbM) verschrieben hat. Sie wurde 1993 gegründet und ist nach dem britischen Epidemiologen Archie Cochrane benannt, der als Pionier der evidenzbasierten Medizin gilt. Cochrane ist vor allem für die Erstellung von systematischen Übersichtsarbeiten (Cochrane Reviews) bekannt, die als Goldstandard für evidenzbasierte Gesundheitsinformationen gelten.
25.7 Voraussetzung der Legalisierung therapeutischer Maßnahmen
Die Legalisierung ärztlicher oder psychotherapeutischer Maßnahmen in Deutschland unterliegt strengen gesetzlichen und ethischen Voraussetzungen. Diese sind in verschiedenen Gesetzen und Richtlinien geregelt, um die Sicherheit und das Wohl der Patienten zu gewährleisten.
Voraussetzung | Beschreibung |
---|---|
Wissenschaftliche Anerkennung | Maßnahme muss auf evidenzbasierten Erkenntnissen und Leitlinien beruhen. |
Berufsrechtliche Zulassung | Behandler benötigt Approbation und Fachkunde. |
Einwilligung des Patienten | Umfassende Aufklärung und schriftliche Zustimmung des Patienten erforderlich. |
Heilmittelwerbegesetz (HWG) | Werbung nur für wissenschaftlich anerkannte Methoden, sachlich und wahrheitsgemäß. |
Arzneimittelgesetz (AMG) | Medikamente müssen zugelassen sein; Off-Label-Use muss medizinisch begründet sein. |
Medizinproduktegesetz (MPG) | Medizinprodukte müssen zugelassen und CE-gekennzeichnet sein. |
Ethische und rechtliche Rahmenbedingungen | Maßnahme muss indiziert, verhältnismäßig und datenschutzkonform sein. |
Kostenübernahme und Abrechnung | Maßnahme muss im EBM oder Psychotherapie-Richtlinienverzeichnis aufgeführt sein. |
Dokumentation | Sorgfältige Dokumentation von Aufklärung, Einwilligung und Behandlungsverlauf. |
Für den Bereich der Psychotherapie sind insb. die wissenschaftliche Anerkennung, die berufsrechtliche Zulassung, die Einwilligung des Patienten, ethische und rechtliche Rahmenbedingungen, die Dokumentation sowie die Kostenübernahme relevant. Ein Therapeut muss nachweisen können, dass es
- eine Indikation für die Maßnahme,
- eine Aufklärung des Patienten,
- eine rechtswirksame Einwilligung,
- eine sachgerechte Ausführung (lege artis),
- eine Dokumentation und
- bei der Durchführung kein Verstoß gegen „guten Sitten“
gab.
25.8 Verständnisfragen
- Welchen Zweck erfüllen Leitlinien in der Psychotherapie, und wie tragen sie zur Qualitätssicherung bei?
- Wie werden psychotherapeutische Leitlinien entwickelt, und welche Rolle spielt dabei die Evidenzbasierung?
- Welche Funktion hat die AWMF bei der Entwicklung von medizinischen und psychotherapeutischen Leitlinien in Deutschland?
- Wie unterscheidet sich die Graduierung von Empfehlungen in AWMF-Leitlinien von internationalen Systemen wie GRADE?
- Welche rechtliche Bedeutung haben Leitlinien in der Medizin und Psychotherapie, und wie beeinflussen sie die Haftung von Behandlern?
- In welchen Fällen können Abweichungen von Leitlinien rechtlich problematisch werden?
- Wie werden Empfehlungen in Leitlinien graduiert, und was bedeutet eine „starke Empfehlung“ im Vergleich zu einer „schwachen Empfehlung“?
- Warum können Leitlinien unterschiedlicher Organisationen (z. B. NICE vs. AWMF) zu unterschiedlichen Empfehlungen kommen?
- Welche Organisationen sind in Deutschland maßgeblich an der Herausgabe von Leitlinien beteiligt, und welche Rolle spielt die DGPPN dabei?
- Welche rechtlichen und ethischen Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit eine therapeutische Maßnahme in Deutschland als legal gilt?
- Welche Rolle spielt die wissenschaftliche Anerkennung bei der Legalisierung neuer Therapieverfahren?
- Was versteht man unter Cochrane?