4  Affektive Störungen: Ätiologie

Veröffentlichungsdatum

01/02/2025

4.1 Einleitung

Das Verständnis psychischer (affektiver) Störungen erfordert eine differenzierte Betrachtung, die verschiedene Aspekte und Ebenen berücksichtigt. Diese Betrachtungsebenen umfassen neurobiologische, psychologische und soziale Aspekte (Abbildung 4.1), kurzum “bio-psycho-soziale” Aspekte.

Abbildung 4.1: Betrachtungsebenen im Verständnis psychischer Störungen

Abbildung 4.1 verdeutlicht die Komplexität, wenn es um die Beantwortung der Frage geht, wie psychische (affektive) Störung entstehen und aufrechterhalten werden. Nachfolgend sind die verschiedenen Ebenen kurz erläutert:

  1. Neurobiologische Ebene:
    • Auf dieser Ebene werden psychische Störungen in Bezug auf neurobiologische Mechanismen und Funktionsstörungen im Gehirn betrachtet.
    • Neurotransmitter und Neurochemie: Ungleichgewichte in Neurotransmittern (wie Serotonin, Dopamin) können mit verschiedenen psychischen Störungen in Verbindung gebracht werden.
    • Genetik: Genetische Faktoren spielen eine Rolle bei der Anfälligkeit für psychische Störungen. Bestimmte genetische Variationen können das Risiko erhöhen.
    • Neuroanatomie: Strukturelle Veränderungen im Gehirn, wie veränderte Volumina bestimmter Regionen, können mit psychischen Störungen assoziiert sein.
  2. Psychologische Ebene:
    • Diese Ebene bezieht sich auf psychologische und kognitive Prozesse, einschließlich individueller Unterschiede und psychologischer Merkmale.
    • Kognitive Modelle: Betrachtet die Denk- und Wahrnehmungsmuster einer Person, die zur Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen Störungen beitragen können.
    • Entwicklungsgeschichte: Frühe Lebenserfahrungen, Bindungsmuster und traumatische Ereignisse können das psychische Wohlbefinden beeinflussen.
    • Persönlichkeit: Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale oder -störungen können mit verschiedenen psychischen Störungen in Verbindung stehen.
  3. Soziale Ebene:
    • Hier werden soziale und kulturelle Faktoren betrachtet, die das Verständnis psychischer Störungen beeinflussen.
    • Soziale Unterstützung: Das Vorhandensein oder Fehlen von sozialer Unterstützung kann einen Einfluss auf das Auftreten und den Verlauf psychischer Störungen haben.
    • Kulturelle Unterschiede: Kulturelle Normen und Werte beeinflussen, wie psychische Gesundheit und Krankheit wahrgenommen werden.
    • Umweltfaktoren: Stressoren, wie finanzielle Probleme, familiäre Konflikte oder traumatische Erlebnisse, können das Risiko für psychische Störungen erhöhen.
  4. Interaktion der Ebenen:
    • Wichtig ist die Anerkennung der Wechselwirkungen zwischen den Ebenen. Zum Beispiel können genetische Veranlagungen die Anfälligkeit für eine Störung erhöhen, aber Umweltfaktoren können den Ausbruch oder die Schwere beeinflussen.
    • Eine integrative Betrachtung ermöglicht es, die Komplexität psychischer Störungen besser zu verstehen und individuelle Unterschiede zu berücksichtigen.

Die biopsychosoziale Betrachtungsweise betont die Wechselwirkungen zwischen diesen Ebenen. Psychische Störungen werden oft durch eine Kombination von Faktoren auf mehreren Ebenen verursacht und aufrechterhalten werden.

Epigenetik

Epigenetik ist ein Forschungsbereich, der sich mit Veränderungen in der Genaktivität befasst, die nicht durch Veränderungen in der DNA-Sequenz selbst verursacht werden. Solche Veränderungen beeinflussen, wie Gene abgelesen oder unterdrückt werden, ohne die eigentliche DNA-Sequenz zu modifizieren. Die Epigenetik spielt eine entscheidende Rolle bei der Regulation der Genexpression und hat Auswirkungen auf die Entwicklung, Zellfunktion, Gesundheit und Krankheit.

Auch im Verständnis psychischer Störungen spielt die Epigenetik eine wichtige Rolle, da sie Einblicke in die komplexen Mechanismen bietet, die zur Entstehung und zum Verlauf psychischer Störungen beitragen. Nachfolgend sind epigenetische Mechanismen aufgeführt, die zur Entstehung und Aufrechthaltung einer psychischen Störung beitragen können:

  • Genregulation und Neurotransmitterfunktion: Epigenetische Veränderungen können die Aktivität von Genen beeinflussen, die für die Produktion von Neurotransmittern und deren Rezeptoren verantwortlich sind.
  • Stressreaktion und HPA-Achse: Epigenetische Veränderungen können in der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) auftreten, die für die Stressreaktion verantwortlich ist. Dysregulation dieser Achse ist bei vielen psychischen Störungen, einschließlich Angststörungen und posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS), beteiligt.
  • Entwicklung von Gehirnstrukturen: Epigenetische Modifikationen spielen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des Gehirns, einschließlich der Bildung von Synapsen und neuronalen Netzwerken. Störungen in diesen Prozessen können mit neurobiologischen Grundlagen von psychischen Störungen, wie Autismus oder Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), in Verbindung stehen.
  • Genetik und Umweltinteraktion: Epigenetische Veränderungen können als Brücke zwischen genetischer Veranlagung und Umweltfaktoren dienen. Umweltbedingte Stressoren, Traumata oder Toxine können epigenetische Modifikationen auslösen, die das Risiko für psychische Störungen erhöhen.
  • Transgenerationale Vererbung: Epigenetische Veränderungen können über Generationen hinweg vererbt werden und somit zur Übertragung von Anfälligkeiten für psychische Störungen beitragen.

4.2 Neurobiologische Aspekte

Die Entstehung und Aufrechhaltung einer Depression ist ein komplexer Prozess, bei dem auch verschiedene neurobiologische Faktoren beteiligt sind. Hier sind einige der wichtigsten neurobiologischen Erklärungsmodelle für die Entstehung und Aufrechthaltung von Depressionen:

  1. Neurotransmitter-Ungleichgewicht: Ein häufiges Modell postuliert ein Ungleichgewicht von Neurotransmittern im Gehirn, insbesondere von Serotonin, Noradrenalin und Dopamin. Diese Botenstoffe sind an der Regulation von Stimmung, Schlaf, Appetit und emotionalen Reaktionen beteiligt. Ein Mangel an diesen Neurotransmittern wird mit depressiven Symptomen in Verbindung gebracht.
  2. Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-(HHN)-Achse: Die HHN-Achse spielt eine wichtige Rolle bei der Stressreaktion des Körpers. In Stresssituationen wird Cortisol freigesetzt. Bei lang anhaltendem Stress oder einer dysregulierten HHN-Achse kann ein erhöhter Cortisolspiegel auftreten, was mit Depressionen in Verbindung gebracht wird.
  3. Neuroinflammation: Forschung legt nahe, dass Entzündungen im Gehirn an der Entstehung von Depressionen beteiligt sein könnten. Chronische Entzündungen können die Funktion von Neuronen und Neurotransmittern beeinträchtigen, was zu depressiven Symptomen führen kann.
  4. Genetik und familiäre Veranlagung: Es gibt Hinweise darauf, dass genetische Faktoren eine Rolle bei der Anfälligkeit für Depressionen spielen. Menschen mit einer familiären Vorgeschichte von Depressionen haben ein höheres Risiko, selbst an dieser Störung zu erkranken.
  5. Neuroplastizität: Veränderungen in der neuronalen Plastizität, also der Fähigkeit des Gehirns, sich anzupassen und zu verändern, könnten bei der Entstehung von Depressionen eine Rolle spielen. Stress und Depressionen können die Neuroplastizität beeinträchtigen.
  6. Schilddrüsenfunktion: Eine gestörte Schilddrüsenfunktion, insbesondere eine Hypothyreose, kann depressive Symptome verursachen oder verstärken. Die Schilddrüse spielt eine wichtige Rolle bei der Regulation des Energiehaushalts und des Stoffwechsels.
  7. Neuroendokrine Dysregulation: Neben der HHN-Achse gibt es andere neuroendokrine Systeme, deren Dysregulation mit Depressionen in Verbindung gebracht wird. Dazu gehören beispielsweise Veränderungen in der Funktion der Gonadenachse und des Wachstumshormonsystems.

Es ist wichtig zu betonen, dass Depressionen wahrscheinlich durch die Wechselwirkung mehrerer dieser Faktoren entstehen. Auch individuelle neurobiologische Unterschiede können eine Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der Störung spielen.

Weitere ausführliche Informationen zu den neurobiologischen Erklärungsmodellen finden Sie in den Vorlesungsfolien.

4.3 Psycho-soziale Apekte

Es wird angenommen, dass neben prädisponierenden konstitutionellen Faktoren ungünstige soziale und umweltbezogene Ereignisse und Bedingungen zur Ausbildung einer erhöhten Vulnerabilität beitragen, die sich über entwicklungsbiologische, psychologische und soziale Prozesse weiter akzentuieren oder abschwächen können.

Abbildung 4.2 verdeutliche alle diese Aspekte in einem Schaubild, dass bei der Durchführung einer Psychotherapie verwendet werden kann, um mit dem Patienten eine Erklärung für die Entstehung und Aufrechthaltung der Depression zu erarbeiten.

Abbildung 4.2: Bio-psycho-soziale Faktoren bei der Entstehung einer Depression

Vielen depressiven Episoden gehen bedeutsame psychosoziale Stressoren (“aversive life-events) voraus. Typische Arten von Stressoren können sein:

  • Verlust einer Person, einer Rollenfunktion (z.B. überflüssig werden) oder eines persönlich bedeutsamen Wertes (z.B. das eigene Kind wird delinquent)
  • Hilf und Machtlosigkeit (z.B. einer unangenehmen Lage nicht entkommen können)
  • Scheitern (z.B. eigene Anstrengungen bleiben erfolglos)
  • Erniedrigung/ Demütigung (z.B. Infragestellung des eigenen Selbstwertgefühls oder Ansehens;
  • Abwertung; in untergeordnete Rolle gezwungen werden

Weitere Beispiele für allgemeine psychologische Stressoren (Distress)

  • Fehlende mütterliche (väterliche) Feinfühligkeit
  • Invalidierender Erziehungsstil (fehlende emotionale Wärme, extreme Kontrolle)
  • Traumatisierungen/ Gewalterfahrung
  • Armut
  • (chronische) Krankheiten
  • Verlust einer Person oder einer Rollenfunktion (z.B. überflüssig werden) oder eines persönlich bedeutsamen Wertes (z.B. das eigene Kind wird delinquent)
  • Hilf und Machtlosigkeit (z.B. einer unangenehmen Lage nicht entkommen können)
  • Scheitern (z.B. eigene Anstrengungen bleiben erfolglos)  Erniedrigung/ Demütigung (z.B. Infragestellung des eigenen Selbstwertgefühls oder Ansehens;
  • Abwertung; in untergeordnete Rolle gezwungen werden
  • etc.

Wichtig bei den psychosozialen Stressoren sind die subjektiven Bewertungen und die vorhandenen Fähigkeiten zur Bewältigung. Menschen reagieren unterschiedlich auf dieselbe Situation, weil sie aufgrund ihrer Erfahrungen die Situation unterschiedlich bewerten und sich auch in den Fähigkeiten zur Bewältigung dieser unterscheiden (Lazarus & Folkman, 1984). In Abbildung 4.3 ist die Wechselwirkung zwischen den Anforderungen der Situation und der handelnden Person dargestellt.

Abbildung 4.3: Psychologisches Stress-Modell (wikipedia)

Primäre Bewertung (Primary Appraisal): Hier bewertet eine Person zunächst eine Situation als irrelevant, positiv (Stressoren als herausfordernd oder förderlich) oder negativ (Stressoren als bedrohlich oder schädlich). Diese Einschätzung basiert auf individuellen Faktoren wie Werten, Bedürfnissen, Zielen und bisherigen Erfahrungen.

Sekundäre Bewertung (Secondary Appraisal): Wenn eine Situation als bedeutsam oder bedrohlich bewertet wird, erfolgt eine sekundäre Bewertung. Diese Bewertung beinhaltet die Einschätzung der individuellen Fähigkeiten, die Stressoren zu bewältigen (Bewältigungspotenzial) und die Verfügbarkeit von Ressourcen für die Bewältigung.

**Bewältigungsstrategien (Coping):* Basierend auf der primären und sekundären Bewertung wählt eine Person Bewältigungsstrategien, um mit dem Stress umzugehen. Bewältigungsstrategien können problemorientiert sein (gerichtet auf die Bewältigung des Stressors selbst) oder emotionsorientiert (gerichtet auf die Veränderung der emotionalen Reaktion auf den Stressor).

Bewertung der Bewältigung (Coping Reappraisal): Nach der Anwendung von Bewältigungsstrategien bewertet die Person erneut, wie erfolgreich diese Strategien waren. Diese Bewertung beeinflusst wiederum die primäre und sekundäre Bewertung von zukünftigem Stress.

4.4 Psychologische Störungsmodelle der Depression

Es gibt verschiedene psychologische Theorien, die versuchen, die Entstehung und Entwicklung von Depressionen zu erklären. Die Theorien schließen sich dabei nicht gegenseitig aus, sondern betonen häufig bestimmte Teilaspekte bei der Entstehung und Aufrechterhaltung (z. B. kognitive Prozesse, Lernerfahrungen).

4.4.1 Verstärker-Verlust-Theorie (Lewinsohn)

Die Lerntheorie der Depression betont, dass depressive Verhaltensweisen erworben werden können und oft auf Belohnungs- und Bestrafungsmechanismen reagieren. Lewinsohn fokussierte auf das Konzept der Verstärkung und argumentierte, dass der Rückzug von positiven Verstärkern oder die Zunahme von Bestrafungen die Entstehung depressiver Symptome fördern können (Gotlib & Lewinsohn, 1992; Lewinsohn & Graf, 1973). Hier sind die zentralen Merkmale der Theorie:

  1. Verstärkerverlust: Die Theorie beginnt mit der Annahme, dass depressive Symptome oft mit einem Verlust von positiven Verstärkern im Leben einer Person verbunden sind. Verstärker sind positive Erfahrungen oder Aktivitäten, die dazu neigen, Verhalten zu verstärken und positive Emotionen zu fördern.
  2. Reduzierte positive Verstärkung: Depressive Menschen erleben laut Lewinsohn eine Reduktion positiver Verstärkung in ihrem Leben. Dies kann durch verschiedene Faktoren verursacht werden, wie soziale Zurückweisung, mangelnde Anerkennung oder das Fehlen positiver Ereignisse. Der Mangel an positiver Verstärkung führt zu einer Abnahme positiver Emotionen.
  3. Rückzug aus positiven Aktivitäten: Infolge des Verstärkerverlusts ziehen sich depressive Personen oft aus positiven Aktivitäten zurück. Sie verlieren das Interesse an Dingen, die ihnen zuvor Freude bereitet haben, und isolieren sich. Dieser Rückzug verstärkt den Mangel an positiven Verstärkern weiter.
  4. Verstärkerverlustzyklus: Die Verstärker-Verlust-Theorie postuliert einen Zyklus, in dem der Mangel an positiven Verstärkern zu depressivem Verhalten führt. Dieses Verhalten wiederum verstärkt den Verlust von Verstärkern, und der Zyklus setzt sich fort.
  5. Intervention durch Verhaltensaktivierung: Basierend auf dieser Theorie wurde die Verhaltensaktivierung als therapeutischer Ansatz entwickelt. Das Ziel besteht darin, depressive Menschen zu ermutigen, positive Aktivitäten zu identifizieren und in ihr Leben zu integrieren, um den Kreislauf des Verstärkerverlusts zu durchbrechen.
G verlust Verlust (z. B. Personen, Gewohnheiten, materielle Dinge, Gesundheit wegfall Wegfall eines gewohnten (positiven) Verstärkers verlust->wegfall aktivität Verminderung von Aktivitäten wegfall->aktivität depression Depressives Fühlen, Denken und Verhalten aktivität->depression weitere Weitere Verminderung von Aktivitäten depression->weitere weitererwegfall Weiterer Wegfall positiver Verstärkers weitere->weitererwegfall zuwendung Zuwendung (z. B. Anteilnahme, Hilfe, Entlastung, Sympathie) weitere->zuwendung weitererwegfall->aktivität
Abbildung 4.4: Das Verstärker-Verlust-Modell der Depression (Lewinsohn)

Die Verstärker-Verlust-Theorie betont die Bedeutung von Umweltfaktoren und positiven Verstärkern in der Entstehung und Aufrechterhaltung von depressiven Symptomen. Im Gegensatz zu kognitiven Theorien der Depression, die sich auf Denkmuster konzentrieren, betont diese Theorie die Rolle von Verstärkern und Verhalten bei der Entwicklung von depressiven Symptomen.

4.4.2 Theorie der gelernten Hilflosigkeit (Seligman)

Die Theorie der gelernten Hilflosigkeit (Learned Helplessness) wurde von Martin Seligman in den 1960er Jahren entwickelt, um das Verhalten von Menschen bei wiederholter Konfrontation mit unkontrollierbaren und aversiven Ereignissen zu erklären (Seligman, 1972).

Die Theorie der gelernten Hilflosigkeit wurde ursprünglich im Kontext von Tierstudien entwickelt, bei denen Hunde in unvermeidbaren elektrischen Schocksituationen gelernt hatten, passiv und hilflos zu reagieren, selbst wenn später die Möglichkeit zur Vermeidung der Schocks gegeben war. Seligman übertrug diese Ideen später auf das Verständnis menschlichen Verhaltens, insbesondere auf die Entstehung von Depressionen.

Nachfolgend sind die grundlegenden Aussagen der Theorie der gelernten Hilflosigkeit aufgeführt:

  • Gelernte Hilflosigkeit: Gelernte Hilflosigkeit tritt auf, wenn Individuen die Erfahrung machen, dass ihre Handlungen keine Kontrolle über unangenehme oder aversive Ereignisse haben. Personen können daraufhin passiv und hilflos auf ähnliche Situationen reagieren, auch wenn die Möglichkeit zur Kontrolle vorhanden ist.
  • Attributionen und Erklärungen: Menschen neigen dazu, ihre Erfahrungen zu erklären und zu interpretieren. In Situationen der gelernten Hilflosigkeit machen Individuen internalisierte, globale und stabile Attributionen für negative Ereignisse.
    • Internal: Sie schreiben die Ursache der negativen Ereignisse sich selbst zu.
    • Global: Sie glauben, dass die negativen Ereignisse auf viele Bereiche ihres Lebens ausstrahlen.
    • Stabil: Sie erwarten, dass die negativen Ereignisse in der Zukunft stabil bleiben werden.
  • Auswirkungen auf die psychische Gesundheit: Die wiederholte Erfahrung der gelernten Hilflosigkeit kann zu einer erhöhten Anfälligkeit für Depressionen führen. Menschen, die gelernte Hilflosigkeit erfahren haben, können sich in zukünftigen Herausforderungen als machtlos erleben, selbst wenn Handlungsmöglichkeiten bestehen.
  • Kognitive Triade der Depression (siehe auch Kognitive Theorie der Depression): Seligman erweiterte die Theorie der gelernten Hilflosigkeit, um die kognitive Triade der Depression zu erklären. Diese Triade umfasst negative Denkmuster über sich selbst, die Welt und die Zukunft.
G kogn Kognitiver Stil ursache Ursachenerklärung (global, stabil, internal) kogn->ursache erwartung Erwartungshaltung ("kein Verhalten ermöglicht Kontrolle", Hilflosigkeit, negative Ausgangserwartungen) ursache->erwartung symptome Symptome (Passivität, kognitive Defiizite, reduzierter Selbstwert, Trauer, Angst, Feindseligkeit, Aggression, Appetikverlust, neurobiologische Veränderungen) erwartung->symptome neg negative Ereignisse werden als unkontrolllierbar wahrgenommen neg->ursache neg->erwartung
Abbildung 4.5: Das Depressions-Modell der gelernten Hilflosigkeit (Seligman)

Die Theorie der gelernten Hilflosigkeit hat Implikationen für präventive und therapeutische Maßnahmen. Die Förderung von Kontrollerfahrungen (“Ich habe mit meinem Verhalten Einfluss auf die Umwelt”) und die Modifikation der Bewertungen können dazu beitragen, gelernte Hilflosigkeit zu verhindern oder zu reduzieren.

4.4.3 Kognitive Theorie der Depression (Beck)

Aaron T. Beck entwickelte die Kognitive Theorie der Depression, die davon ausgeht, dass negative Denkmuster und fehlerhafte Kognitionen eine Schlüsselrolle bei der Entstehung von Depressionen spielen (Beck & Haigh, 2014).

Negative Denkmuster beinhalten kognitive Verzerrungen wie Übergeneralisierung, Schwarz-Weiß-Denken und Katastrophisieren. Der depressive Zyklus wird durch negative Denkmuster aufrechterhalten und verstärkt. Nachfolgend sind die zentralen Aussagen der Theorie aufgeführt:

  1. Negative Denkmuster: Beck argumentiert, dass Menschen mit Depressionen dazu neigen, negative Denkmuster zu entwickeln. Diese Muster beziehen sich auf sich selbst, die Welt und die Zukunft (kognitive Triade). Betroffene neigen dazu, sich selbst abzuwerten, Ereignisse pessimistisch zu interpretieren und negative Prognosen für die Zukunft zu erstellen.
  2. Automatische Gedanken: Die kognitive Theorie betont automatische Gedanken als Schlüsselkomponente. Dies sind spontane, oft unbewusste Gedanken, die unmittelbar auf bestimmte Situationen oder Ereignisse folgen. Depressive Personen haben tendenziell viele automatische negative Gedanken, die ihre Sichtweise beeinflussen.
  3. Kognitive Verzerrungen: Beck identifizierte verschiedene Arten von kognitiven Verzerrungen, die dazu beitragen, depressive Denkmuster aufrechtzuerhalten. Dazu gehören beispielsweise das selektive Filtern von Informationen (nur negative Aspekte beachten), übergeneralisierendes Denken (von einem Misserfolg auf alle Lebensbereiche schließen) und katastrophisierendes Denken (die schlimmstmöglichen Szenarien erwarten).
  4. Kernüberzeugungen: Beck führte den Begriff der Kernüberzeugungen (dysfunktionale Grundannahme) ein, die tiefsitzende, grundlegende Überzeugungen über sich selbst, die Welt und die Zukunft darstellen (z. B. “Ich bin nichts wert”). Diese Überzeugungen beeinflussen die Entstehung von automatischen Gedanken und kognitiven Verzerrungen.
  5. Kognitive Triade: Die kognitive Triade beschreibt negative Gedanken über sich selbst, die Welt und die Zukunft. Diese triadischen Denkmuster sind charakteristisch für depressive Menschen und verstärken die depressiven Symptome.
G neg Negative Lebenserfahrung schema Kognitive Schemata (stabile Denk- und Bewertungsmuster) neg->schema dys Dysfunktionale Kognitionen (kognitive Triade) Negative Sicht - der eigenen Person, - der Umwelt, - der eigenen Zukunft schema->dys logik Logische Fehler willkürliche Schlüsse selektive Wahrnehmung Übergeneralisierung Über- oder Untertreibung falsche Ursachenzuschreibung dys->logik auto Automatisches Kreisen der Gedanken um Themen wie Hoffnungslosigkeit, Selbstwert, Vermeidung usw. dys->auto depression Depressives Fühlen und Verhalten dys->depression logik->depression auto->depression belastung Belastende(s) bzw. auslösende(s) Ereignis(se) belastung->dys
Abbildung 4.6: Die kognitive Theorie der Depressions (Beck)

Die kognitive Therapie, die aus dieser Theorie entwickelt wurde, zielt darauf ab, diese negativen Denkmuster zu identifizieren, zu hinterfragen und durch realistischere und positive Gedanken zu ersetzen. Dieser Ansatz hat sich als wirksame Methode in der Behandlung von Depressionen erwiesen und bildet die Grundlage für viele kognitive Therapieansätze (Butler et al., 2006).


“Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern die Meinung, die wir über diese Dinge haben. Bemühe dich daher, jedem unangenehmen Gedanken sofort zu begegnen, indem du sagst : „Du bist nicht das, was du zu sein scheinst, du bist bloß eine Einbildung”. Dann prüfe und beurteile ihn nach den Regeln , die du gelernt hast, besonders aber nach der ersten: ob er zu dem gehört, worüber wir frei verfügen können, oder nicht. Und wenn er zu den Dingen gehört, die nicht in unserer Gewalt stehen, dann sage dir sofort: Geht mich nichts an.”

(aus: Epiktet, 1906, Handbüchlein der Moral. Jena: Diederichs Verlag.)

4.5 Verständnisfragen

  1. Erläutern Sie “bio-psycho-soziale Aspekte” bei der Ätiologie affektiver Störungen. Versuchen Sie jeweils auch ein Beispiel zu geben.
  2. Was versteht man unter dem Begriff “Epigenetik”?
  3. Welche Rolle spiel die Epigenetik bei der Ätiologie psychischer Störungen?
  4. Was postuliert die Theorie des Neurotransmitter-Ungleichgewichts? Welche Neurotransmitter scheinen bei Patienten mit einer depressiven Episode bei der Entstehung und Aufrechterhaltung der psychischen Störung eine Rolle zu spielen?
  5. Wie wird im psycho-sozialen Modell die Entstehung und Aufrechterhaltung einer depressiven Episode erklärt.
  6. Nennen Sie vier psychosoziale Stressoren. Erläutern Sie an einem der von Ihnen gewählten Stressoren, wie dieser zur Entstehung einer depressiven Episode beitragen kann.
  7. Welche Rolle spielen Bewertungsprozesse bei Stressoren?
  8. Was versteht man unter sekundärer Bewertung (“secondary appraisal”) und wo spielen solche sekundären Bewertungen eine Rolle?
  9. Erläutern Sie die Verstärker-Verlust-Theorie der Depression.
  10. Erläutern Sie die Theorie der gelernten Hilflosigkeit.
  11. Erläutern Sie die Kognitive Theorie der Depression.
  12. Wie erklärt die Verstärker-Verlust-Theorie die Entstehung von Depressionen?
  13. Welche Rolle spielen soziale Beziehungen und Umweltfaktoren bei der Aufrechterhaltung von Verstärkerverlusten und der daraus resultierenden Depression?
  14. Welche therapeutischen Maßnahmen können dazu beitragen, die Zahl positiver Verstärker im Leben depressiver Menschen zu erhöhen?
  15. Welche individuellen Unterschiede beeinflussen die Fähigkeit von Menschen, auf potenzielle Verstärker zu reagieren, und wie könnte dies die Anfälligkeit für Depressionen erklären?
  16. Wie erklärt die Theorie der gelernten Hilflosigkeit die Entwicklung von Passivität und Resignation bei Menschen in wiederholten unkontrollierbaren Stresssituationen?
  17. Welche Rolle spielen Kausalattributionen (z. B. internal, stabil und global) in der Verstärkung von Hilflosigkeit und deren Übergang in depressive Zustände?
  18. Wie können Interventionen gestaltet werden, um Menschen dabei zu helfen, ihre Wahrnehmung von Kontrolle wiederzuerlangen und die Effekte gelernter Hilflosigkeit zu überwinden?
  19. Welche Unterschiede bestehen in der Anfälligkeit für gelernte Hilflosigkeit zwischen Individuen, und welche Faktoren beeinflussen diese Anfälligkeit (z. B. Persönlichkeit, frühere Erfahrungen, soziale Unterstützung)?
  20. Wie beeinflussen dysfunktionale Denkmuster wie automatische negative Gedanken und kognitive Verzerrungen die Entstehung und Aufrechterhaltung von Depressionen?
  21. Welche Rolle spielt die kognitive Triad (negative Sicht auf das Selbst, die Welt und die Zukunft) in der Symptomatik der Depression, und wie lässt es sich therapeutisch verändern?
  22. Wie können Techniken der kognitiven Verhaltenstherapie gezielt eingesetzt werden, um die durch Beck beschriebene Denkweise depressiver Patienten zu modifizieren?
  23. Inwiefern tragen frühere Lebenserfahrungen und Grundüberzeugungen (Schemas) zur Entwicklung von kognitiven Mustern bei, die laut Beck für Depressionen prädisponieren?
  24. Welche Bedeutung hat das Zitat von Epiktet in Verbindung mit dem Arbeitsmodell der Psyche?

References

Beck, A. T., & Haigh, E. A. P. (2014). Advances in Cognitive Theory and Therapy: The Generic Cognitive Model. Annual Review of Clinical Psychology, 10(1), 1–24. https://doi.org/10.1146/annurev-clinpsy-032813-153734
Butler, A., Chapman, J., Forman, E., & Beck, A. (2006). The empirical status of cognitive-behavioral therapy: A review of meta-analyses. Clinical Psychology Review, 26(1), 17–31. https://doi.org/10.1016/j.cpr.2005.07.003
Gotlib, I. H., & Lewinsohn, P. M. (1992). Cognitive Models of Depression: Critique and Directions for Future Research. Psychological Inquiry, 3(3), 241–244. https://doi.org/10.1207/s15327965pli0303_7
Lazarus, R. S., & Folkman, S. (1984). Stress, appraisal, and coping. Springer Publishing Company.
Lewinsohn, P. M., & Graf, M. (1973). Pleasant activities and depression. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 41(2), 261–268. https://doi.org/10.1037/h0035142
Seligman, M. E. P. (1972). Learned Helplessness. Annual Review of Medicine, 23(1), 407–412. https://doi.org/10.1146/annurev.me.23.020172.002203