10  ADHS: Symptomatik

Veröffentlichungsdatum

01/02/2025

10.1 Einleitung

In den weiteren Abschnitten dieses Kapitels sind verschiedene Erfahrungsberichte von Betroffenen aufgeführt, anhand der die klinische Symptomatik und die damit einhergehenden psychosozialen Funktionsbeeinträchtigungen verdeutlich werden soll. Im letzten Abschnitt wird auch noch auf die Veränderung der Symptomatik im Entwicklungsverlauf hingewiesen.

10.2 Erfahrungsberichte

10.2.1 Erfahrungsbericht einer Mutter mit einem Kind mit ADHS

Mein Sohn Max wurde im Alter von sechs Jahren mit ADHS diagnostiziert. Anfangs waren wir als Eltern besorgt und verwirrt über seine impulsiven Handlungen und seine Unfähigkeit, sich zu konzentrieren. Die Diagnose brachte Klarheit, aber auch eine Flut von Fragen und Zweifeln mit sich.

Die täglichen Herausforderungen begannen früh am Morgen. Die morgendliche Routine war eine regelrechte Schlacht. Das Aufstehen, Anziehen und Frühstücken war ein Kampf, der oft in Tränen endete. Die Konzentrationsschwierigkeiten in der Schule führten zu ständigen Problemen und schulischen Misserfolgen, die Max’ Selbstwertgefühl stark beeinträchtigten.

Die Hausaufgaben waren eine tägliche Quelle von Stress und Frustration für uns beide. Es war schwer, ihm zu helfen, wenn er selbst so frustriert und unruhig war. Die Organisation und Planung seines Tagesablaufs gestaltete sich als eine große Herausforderung.

Die sozialen Interaktionen waren ebenfalls schwierig. Max hatte Schwierigkeiten, Freundschaften zu knüpfen, weil er oft übermäßig impulsiv oder ungeduldig war. Er war nicht böse oder gemein, aber er hatte Schwierigkeiten, seine Emotionen zu kontrollieren.

Die Entscheidung, ihn medikamentös zu behandeln, war nicht einfach, aber sie brachte eine gewisse Erleichterung. Die Medikamente halfen ihm, sich besser zu konzentrieren und ruhiger zu werden, aber es war kein Allheilmittel. Wir begannen auch Verhaltensstrategien zu erlernen, um ihm zu helfen, sich zu organisieren und seine Emotionen zu kontrollieren.

Die größte Lektion, die ich als Mutter gelernt habe, war die Bedeutung von Geduld und Akzeptanz. Wir mussten lernen, dass Max anders ist, aber nicht weniger wertvoll. Es erfordert viel Geduld, Liebe und Unterstützung, aber jeden Tag sehen wir auch kleine Fortschritte und Erfolge, die uns glücklich machen.

10.2.2 Interview mit Daniela Chirici

Interview mit Daniela Chirici, die in einem Buch ihre Erfahrungen mit ihrem hyperaktiven Sohn zusammengefasst hat.

“Schon früh merkt Daniela Chirici, dass ihr Sohn Kilian anders ist als andere Kinder. Als die Diagnose ADHS gestellt wird, ist zumindest klar, warum Kilian solche Probleme in der Schule und im Sozialverhalten hat. Sie beginnt, für die ADHS-Organisation Schweiz Beiträge zu schreiben, die sie jetzt im Buch „Eine Kindheit mit ADHS” zusammengefasst und mit anderen Texten ergänzt hat. Wir haben mit Daniela Chirici über ihr Buch und ihre Erfahrungen gesprochen, über Herausforderungen, Kraftquellen und die Möglichkeit, anderen Betroffenen zu helfen.

Frau Chirici, hätten Sie sich selbst ein Buch gewünscht, wie das, was Sie jetzt geschrieben haben?

So ein Buch hätte mir persönlich sehr geholfen, vor allem auf der emotionalen Ebene, z.B., wenn die Angriffe von außen kommen, wie geht man damit um? Es hieß, Kilian sei unerzogen, ich hätte ihn nicht im Griff usw. Ich hätte mir ein Buch gewünscht, das aus dem Leben gegriffen ist. Die Ratgeber, die Tipps, die sind alle wunderbar, auch lesenswert und empfehlenswert, aber mir hat der familiäre Aspekt gefehlt. Wie geht man in der Partnerschaft damit um, wie geht man mit so einem Kind um? Was heißt das für die Familie? Darum denke ich, das Buch, das ich geschrieben habe, ist genau so eins, das ich selbst nirgends gefunden habe.

Wann wurde klar, dass Kilian anders ist als andere Kinder? Und wie lange hat es dann bis zur Diagnose ADHS gedauert?

Ich habe es schnell gemerkt nach der Geburt. Meine Freundin hatte zeitgleich auch ihr erstes Kind bekommen, da hatte man direkt einen Vergleich. Mein Sohn hat durchgeschrien die ganze Nacht, von 18 Uhr bis 8 Uhr morgens. Dann habe ich gemerkt, dass er schon als Baby an Strukturen gebunden war, nur wenn ich immer die gleichen Zeiten einhielt, dann hatte ich die Chance, dass er einschlief. Er war auffällig im Spracherwerb – er war schon später dran als die anderen Kinder – und im Sozialverhalten. Mit 11 Monaten ist er gelaufen und ab da war ich beschäftigt mit Hinterherlaufen, da fiel es extrem auf, dass er gar nicht zur Ruhe gekommen ist. Auch das Essen war ein Thema, es hat ewig gedauert, bis er mal einen Löffel gegessen hat. Er war von Anfang an, vom ersten Atemzug, für mich auffällig, ich habe gemerkt, der ist irgendwie anders. Ich bin dann früh zum Kinderarzt gegangen, die haben gesagt, ich soll keine hysterische Mutter sein, es käme schon alles. Es blieb aber schwierig, er hat andere Kinder gebissen, ist im Sandkasten über die Bauten der anderen drüber, wir haben uns sehr unbeliebt gemacht auf dem Spielplatz. Dann bin ich wieder zum Kinderarzt, ich habe gesagt, er bleibt nie bei einer Sache, er konzentriert sich gar nicht! Aber auch da – er war 5 – hieß es, ich soll nicht immer so hysterisch tun, es sei schon alles in Ordnung.

“Es hieß, ich soll nicht immer so hysterisch tun, es sei schon alles in Ordnung.”

Dann kam der Eintritt in den Kindergarten und nach kaum 6 Wochen hat man schon zu uns gesagt, wir sollen zum Gespräch kommen. Da habe ich gewusst, die kommen jetzt mit diesem „aber” – und so war es dann auch. Er war 6 Jahre und 4 Monate, als man die Diagnose gestellt hat. Und bis dahin hat man immer gedacht, es liegt an mir, ich sollte es ja ruhig und gelassen nehmen.

Hätte es etwas geändert, wenn die Diagnose früher da gewesen wäre?

Ja, das hätte etwas geändert, dann hätte ich auch mehr Unterstützung gehabt, Kilian hätte Anrecht gehabt auf eine Frühförderung, man hätte die Schulsituation ganz anders angehen können. Kilian hat mit 4 Jahren immer noch nicht durchgeschlafen, das war in der Spielgruppe kaum tragbar. Hätte ich es vorher gewusst, man hätte ganz anders mit dem Thema umgehen können.

Dann hat Ihnen die Diagnose in gewisser Weise geholfen?

Ja, das war dann so ein Aha-Erlebnis: Ach darum macht er diese Sachen, deswegen ist es so, dann könnte ich ihm noch so helfen. Man hat sich dann auch nicht immer die Schuld an allem gegeben. Ich war ja strukturiert und klar, ich habe nicht verstanden, was ich falsch mache. Ich stand abends oft vor seinem Bett, wenn er mal geschlafen hat und hab mir meinen Sohn angeschaut und überlegt: irgendwas stimmt nicht, ich weiß nicht, was es ist, aber ich weiß, du bist ein guter Kerl. Mutterliebe habe ich gespürt zu diesem Kind, das habe ich nie in Frage gestellt.

Kilian und Sie sind relativ früh an die Öffentlichkeit gegangen, d.h., sie beide haben in Dokumentarfilmen mitgewirkt, Sie selbst haben Beiträge für die ADHS-Organisation in der Schweiz geschrieben – wie kam es dazu?

Ich war in einer Elterngesprächsgruppe, wo sich betroffene Eltern austauschen konnten, dort wurden Leute für den Vorstand gesucht und ich bin dann eingetreten. In dieser Zeit hat das Schweizer Fernsehen angefragt, ob es Familien mit ADHS-Kindern gäbe, die bereit wären für eine Dokumentation. Jemand aus dem Präsidium der elpos sprach mich an, weil sie meinte, wir wären genau die Richtigen. Da habe ich zuerst gesagt, Nein, das mache ich sicher nicht, ich stelle doch nicht mein Kind zur Schau. Dann habe ich ein paar Nächte darüber geschlafen und habe gedacht: Warum eigentlich nicht? Es ist ja ein Thema, bei dem es jedes Mal eine Medikamentendiskussion gibt, eine Erziehungsdiskussion – warum kann man nicht mal aufzeigen, was es für das Kind heißt und für die Familie. Nach diesem ersten Film war die Nachfrage noch groß, so dass man einen zweiten gedreht hat. Am Schluss war dann klar, die Leute wollten immer noch wissen, wie es mit Kilian weiterging, denn der zweite Film hat aufgehört, als Kilian gerade in einem Dilemma feststeckte. So kam es dann zum dritten Film, der Reportage „Kilian – Eine Kindheit mit ADHS”.

Für Kilian war es in Ordnung?

Ja, der war damals 9 ½ ungefähr, ich habe ihm gesagt, wir hätten die Möglichkeit, ins Fernsehen zu gehen und sein Satz war: Mama, lass uns das doch machen, ich kann doch zeigen, wie das ist, dass man das auch endlich versteht, wie es mir geht. Da habe ich gedacht, dann ist es auch richtig. Für ihn hat das gestimmt, und es stimmt auch heute noch. Der ist auch stolz auf das Buch, er hat gesagt, er will das dann bei den Bestsellern sehen! Stellen wir mal hohe Ziele statt kleine Ziele!

“Mama, lass uns das doch machen, ich kann doch zeigen, wie das ist, dass man das auch endlich versteht, wie es mir geht.”

Das Leben mit einem von ADHS betroffenen Kind ist sehr herausfordernd, hat Ihnen das Schreiben geholfen? Was hat Ihnen noch Kraft gegeben?

Das Schreiben kam zustande, weil die Redakteurin aus unserem Verein, nachdem wir im Fernsehen waren, meinte, da sollte man etwas dazu schreiben. Erst waren 1,2 Artikel geplant, daraus sind jetzt 10 Jahre geworden. Es waren schwierige Situationen, die wir hatten und ich denke manchmal, ja, das war wie eine Selbsttherapie, es niederzuschreiben. Meine Beiträge sollten aber auch hilfreich sein, damit andere davon profitieren können.

Ich war sehr oft angespannt, in der schwierigsten Phase habe ich gedacht: Ich manage hier alles, was kann ich machen, dass ich mal entspannen kann, dass ich mal den Kopf frei bekomme und Kraft tanken kann. Ich hatte einen Kindheitstraum: Panflöte spielen. Ich habe mir eine Lehrerin gesucht und habe angefangen – ohne musikalische Vorkenntnisse! Und seither spiele ich Panflöte im Ensemble. Das war die Entspannung, bei der ich wusste, das lässt mich die Gedanken unterbrechen. Und das ist heute noch so. Dann habe ich das Segeln kennen gelernt und habe gemerkt, die Freiheit auf dem See, die hilft mir, wieder Kraft zu schöpfen. Hilfreich sind auch Treffen mit Freundinnen, der Austausch, die „Frauengespräche”, oder mal zusammen wellnessen gehen. Es braucht Mut zu sagen: jetzt nehme ich mir die Auszeit, weil ich sie brauche. Ich wusste, ich muss durchhalten bei Kilian, sonst schafft er das nicht.

Sie arbeiten selbst inzwischen als Erziehungsberaterin und Elterncoach, wie sehr helfen hier Ihre eigenen Erfahrungen?

Die Erfahrung macht es für mich einfacher, einmal durch die medizinischen Background als Krankenschwester und dann aus der Perspektive als Mutter, ich kann mich in die Eltern gut einfühlen, wie es ihnen geht und ich weiß auch, wie der Alltag aussieht, das kann ich eins zu eins nachempfinden. Durch die Ausbildung als Entwicklungs- und Lerntherapeutin weiß ich, wie ich die Kinder fördern kann, in ihrer Entwicklung und individuell, denn jedes AHDS-Kind ist ja individuell. Da freut es mich natürlich, dass ich Kindern und Eltern eine Unterstützung anbieten kann. Ich möchte auch die Eltern mehr ins Boot holen, gerade auch Eltern, die selbst von ADHS betroffen sind, meistens brauchen die sogar mehr Unterstützung als die Kinder. Ich merke, wie sich die Eltern wohlfühlen, es braucht nicht viele Worte, sie müssen es mir nicht groß erklären, weil ich weiß, wovon sie reden. Das ist natürlich ein Vorteil.

Was möchten Sie Leser*innen Ihres Buches vermitteln, was wären Ihre wichtigsten Anliegen?

Ich will, dass das Buch Mut und Hoffnung gibt! Es gibt diese dunkle Seite, wo man denkt, es geht nie vorwärts, alles läuft nur noch schief. Aber ich will zeigen, dass es gut werden kann. Dass es zwar Energie braucht, dass es herausfordernd ist, dass man auch oft an seine Grenzen kommt – aber die Kernbotschaft meines Buches ist immer: Dranbleiben lohnt sich.

“Die Kernbotschaft meines Buches ist immer: Dranbleiben lohnt sich!”

Es geht nicht immer in die gewünschte Richtung, aber wenn man dranbleibt, und das macht, was man machen kann, dann haben die Kinder eine Chance, das soll das Buch zeigen. Kilian hatte den schwierigsten Schulweg gehabt, den ich in unserer Gruppe gehört habe, und dennoch ist er auf einem guten Weg, Er hat große Widrigkeiten erlebt und trotzdem steht er jeden Morgen um 5 Uhr morgens auf und sagt: ich gehe gerne arbeiten und komme abends wieder heim und bin dann müde.”

10.2.3 Erfahrungsbericht einer Erwachsenen

Folgendes Interview mit der Journalistin und Buchautoren (“Kirmes im Kopf”) Angelina Boerger wurde am 16. März 2023 im DER STANDARD abgedruckt. In dem Interview beschreibt sie u.a. die alltäglichen Probleme, die sich mit einer ADHS ergeben.

“Als Angelina Boerger mit 29 Jahren die Diagnose ADHS bekommt, bricht sie in Tränen aus. Aber nicht, weil sie bestürzt darüber ist, die Tränen kommen ihr, weil sie erleichtert ist. Endlich hat sie einen Namen für ihr”Anderssein”. Weil sie zuvor kaum etwas über ADHS im Erwachsenenalter gehört hat, ist für sie ab diesem Zeitpunkt klar, dass es viel mehr Aufklärung darüber geben muss, und sie beschließt, ein Buch zu schreiben.

In vielen Köpfen ist immer noch fest verankert: ADHS haben vor allem Buben, die nicht still sitzen können. Dabei sind genauso Mädchen und auch Erwachsene davon betroffen, Bei ihnen äußert es sich häufig nur anders, ihre Unruhe findet mehr im Inneren statt. Typische Beispiele dafür sind, wenn sich die Gedanken im Kreis drehen, Deadlines nicht eingehalten werden können, Selbstzweifel oder häufiges Zuspätkommen. Um trotzdem in der Gesellschaft und im Beruf nicht negativ aufzufallen, versuchen viele mit nicht diagnostiziertem ADHS, diese Schwierigkeiten zu verdecken oder zu kompensieren, was einen erheblichen Kraftaufwand für die Betroffenen bedeutet. Nicht selten sind Burnout, Depressionen, Suchtverhalten oder Angsterkrankungen die Folge. Die eigentliche Ursache, nämlich ADHS, wird jedoch immer noch häufig übersehen.

Um mehr Bewusstsein für ADHS im Erwachsenenalter zu schaffen, begann Boerger ihre Geschichte aufzuschreiben. Herausgekommen ist das Buch “Kirmes im Kopf”. Im STANDARD-Interview erzählt sie, mit welchen Schwierigkeiten sie im Alltag konfrontiert ist und warum es so wichtig ist, mit alten Vorurteilen aufzuräumen.

STANDARD: Sie haben die Diagnose ADHS erst im Erwachsenenalter bekommen. Wie kam es überhaupt dazu?

Boerger: Das war reiner Zufall. Bei einer Recherche für den WDR zum Thema ADHS habe ich zum ersten Mal davon gehört, dass auch Erwachsene diese Diagnose bekommen können. Für mich war das bis dahin immer etwas, das Kinder und vielleicht noch Jugendliche haben. Aber auf einmal merkte ich, dass alles, was dort beschrieben wurde, zu 100 Prozent auch auf mich zutraf. Ich begann Rückschlüsse auf mein eigenes Leben zu ziehen, und mir war ziemlich schnell klar, dass auch ich ADHS haben muss. Bis ich dann die Diagnose auch schwarz auf weiß hatte, hat es dann aber noch einige Monate gedauert.

STANDARD: Was hat sich seitdem für Sie verändert?

Boerger: Für mich hat sich alles verändert. Endlich konnte ich anfangen, Frieden mit mir zu schließen, denn nun weiß ich, dass mein Verpeiltsein nicht daran liegt, dass ich zu dumm oder zu faul bin, sondern mein Gehirn funktioniert einfach ein bisschen anders. Leider denken viele Menschen immer noch, dass Gehirne alle gleich funktionieren müssen. Wenn es nicht so ist, bekommt man schnell einen Stempel, dass etwas nicht stimmt, dass man nicht normal ist. Erst ganz langsam beginnen die Menschen zu begreifen, dass diese Vielfältigkeit etwas Schönes und Bereicherndes sein kann.

STANDARD: Sie sprechen von ihrem Verpeiltsein. Was meinen Sie damit?

Boerger: Es sind häufig Kleinigkeiten, die sich dann summieren. Etwa die Wäsche so lange in der Waschmaschine zu vergessen, bis sie modrig riecht und man sie dann noch mal waschen muss. Sich aus der Wohnung auszuschließen, weil man schon wieder den Schlüssel drinnen vergessen hat, oder auch in den falschen Bus zu steigen und bis ans andere Ende der Stadt zu fahren. Das sind alles Dinge, die einen im Alltag erheblich aufhalten und die andere Menschen nur ziemlich schwer verstehen können, vor allem, wenn sie häufig vorkommen.

STANDARD: Aber fast jeder hat schon einmal die Wäsche vergessen oder sich aus der Wohnung ausgesperrt. Was macht den Unterschied zu Personen mit ADHS aus?

Boerger: Das stimmt natürlich. Einzelne Dinge davon passieren anderen Menschen wahrscheinlich auch hin und wieder. Bei ADHS kommt es aber auf die Summe an. Wichtig ist dabei auch, dass sie nicht an besonders fordernde Abschnitte im Leben gebunden sind. Wer gerade in einer stressigen Phase steckt, vergisst sicher auch mal die Wäsche. Mir passieren diese Dinge jedoch kontinuierlich und über einen langen Zeitraum hinweg. Dazu kommt, dass man auch Konsequenzen in Kauf nimmt, die kaum jemand nachvollziehen kann. Es kam schon mal vor, dass ich es nicht geschafft habe, meine 700-Euro-Kleider-Bestellung zurückzuschicken, obwohl ich vier Wochen Zeit dafür hatte. Ich hab dieses Paket jeden Tag liegen gesehen und wusste auch, dass es ganz dringend verschickt werden muss. Aber was soll ich sagen, ich habe es einfach nicht geschafft, damit zur Post zu gehen. Irgendwann habe ich es gar nicht mehr wahrgenommen. Als Konsequenz hat man dann Gewand im Wert von 700 Euro zu Hause, das einem nicht mal passt oder gefällt.

STANDARD: Und wie sieht es im Berufsleben aus? Haben Sie dort auch schon negative Erfahrungen gemacht?

Boerger: Beruflich kann diese Verpeiltheit einen ganz schön in die Bredouille bringen. Etwa wenn man die Bewerbungsfrist nicht einhalten konnte und somit nicht zum Bewerbungsgespräch eingeladen wird. Oder man nicht bezahlt wird, weil der Text, den man schreiben sollte, zu spät abgegeben wurde. Abgesehen vom finanziellen Verlust, der vielleicht sogar dazu führt, dass man die nächste Miete nicht bezahlen kann, macht das auch etwas mit dem Selbstwertgewühl. Ich hatte oft das Gefühl, dass ich schon wieder gescheitert und einfach zu dumm bin. Die anderen schaffen es ja auch, diese Deadlines einzuhalten. Ich habe dann im Laufe der Jahre gelernt, wie auch ich diese Deadlines einhalten kann. Das funktioniert allerdings nur, wenn man häufig über die eigenen Grenzen geht. Es kam nicht nur einmal vor, dass ich die ganze Nacht gesessen bin, um diesen einen Text doch noch rechtzeitig abgeben zu können, weil ich es die Wochen zuvor, die ich dafür Zeit gehabt hätte, einfach nicht geschafft habe. Das Problem dabei ist, dass dieses über Grenzen gehen jedes Mal enorm viel Energie kostet, die man nicht zurückbekommt. Nicht selten kommt es dann nach ein paar Jahren zum großen Knall. Viele landen dann etwa im Burnout oder bekommen Depressionen, ohne die eigentliche Diagnose, nämlich ADHS, zu kennen.

STANDARD: Sie hatten zu Beginn ja nur die Vermutung, dass es ADHS sein könnte. Wie haben Sie die Diagnose bekommen?

Boerger: Ich war bereits in einer Verhaltenstherapie, weil ich das Gefühl hatte, ich kann mit Stress nicht gut umgehen. Ich hatte Angst, dass ich in einem Burnout lande, wenn ich so weitermache wie bisher. Ich wollte lernen, mich zusammenzureißen und Struktur in mein Leben zu bringen. Zumindest dachte ich, dass ich das machen muss. Meiner Therapeutin erzählte ich dann von meinem Verdacht und sie antwortete nur, dass sie von ADHS im Erwachsenenalter zwar bereits gehört hätte, aber selbst nach 22 Jahren Berufserfahrung noch nie diese Diagnose gestellt hat und sich erst erkundigen müsse. Mir war in diesem Moment klar, dass sie nicht die richtige Therapeutin für mich sein kann. Also wandte ich mich an meine Hausärztin, die mir einige Kontakte gab. Doch überall, wo ich anrief, war entweder Aufnahmestopp, oder ich bin gar nicht erst durchgekommen. Der erste Termin, der mir angeboten wurde, war 18 Monate später. Aber als dann tatsächlich ADHS diagnostiziert wurde, hatte ich Tränen in den Augen. Nicht weil ich traurig war, ich war einfach so froh, nun endlich zu wissen, dass mein Gehirn einfach anders funktioniert und es nicht an mir liegt, dass ich einige Sachen nicht so hinbekomme wie andere Menschen.

STANDARD: Wie gehen Sie mit der Diagnose um?

Boerger: Ich will anderen Menschen davon erzählen und ihnen eine Plattform geben, um sich darüber auszutauschen. Selbst wenn es ginge, würde ich aber mein ADHS nicht mehr hergeben wollen. Denn neben den ganzen Anstrengungen, die ADHS mit sich bringt, gibt es auch viele positive Dinge. Wie ich auf die Welt blicke etwa, ist für mich einfach etwas ganz Besonderes. Ich nehme alles ganz intensiv wahr. Das kann anstrengend sein, das kann aber auch wundervoll sein. Weil man sich leicht mitreißen lässt und weil man alles spürt und ich mich auch an den kleinsten Dingen erfreuen kann. Natürlich sind dazu auch andere Menschen in der Lage, aber vielleicht nicht in dieser Intensität. Außerdem liebe ich es, dass ich mich immer wieder umentscheide, dass ich immer wieder alles über dem Haufen werfen kann und mich verändere. Es ist ständig viel los in meinem Kopf. Wie bei der Kirmes dreht sich immer alles weiter. Das ist es auch, was mich antreibt und was mich glücklich macht. (Jasmin Altrock, 15.3.2023)”

10.3 Videos mit Erfahrungsberichten

ADHS - So krass ist es wirklich!

10.4 ADHS-Symptome im Entwicklungsverlauf

Die Symptome einer ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) verändern sich im Verlauf des Lebens. Es gibt Unterschiede zwischen den Symptomen im Kindesalter und im Erwachsenenalter (siehe Tabelle 10.1).

Tabelle 10.1: Unterschiedliche Symptome bei Kinder und Erwachsenen mit einer ADHS
Symptom ADHS im Kindesalter ADHS im Erwachsenenalter
Hyperaktivität Ausgeprägte körperliche Unruhe, Schwierigkeiten, still zu sitzen Innere Unruhe, Schwierigkeiten, innerlich zur Ruhe zu kommen
Aufmerksamkeitsprobleme Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, leichte Ablenkbarkeit Schwierigkeiten bei der Aufmerksamkeitssteuerung, Organisation von Aufgaben
Impulsivität Deutliche Impulsivität, Entscheidungen ohne Überlegung Subtilere Impulsivität, Schwierigkeiten beim Warten, Neigung zu riskantem Verhalten
Schwierigkeiten in der Schule Probleme mit schulischer Leistung, Unruhe im Klassenzimmer Berufliche Herausforderungen, Organisationsschwierigkeiten
Soziale Schwierigkeiten Probleme beim Aufrechterhalten von sozialen Beziehungen Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen, Impulsivität in sozialen Situationen
Innere Unruhe - Ausgeprägte innere Unruhe, Schwierigkeiten beim Entspannen
Organisationsprobleme - Schwierigkeiten bei der Organisation und Strukturierung des Alltags
Berufliche Herausforderungen - Schwierigkeiten im beruflichen Umfeld, geringe Frustrationstoleranz